Projektorientierte Hochschullehre im Labor „Financial and Actuarial Data Science“ am Beispiel eines „Robo Advisor“-Projekts
Intro
Monate später trifft man in einem anderen Kontext wieder auf die Lerninhalte, und es drängt sich der Gedanke auf „das habe ich schon mal gehört“, ohne aber jemals selbst einen praxisrelevanten Anwendungsbezug hergestellt zu haben. Aus Sicht der Lehre stellt sich die Frage, wie diese gestaltet werden kann, sodass nicht überwiegend solches „träges Wissen“ (vgl. z. B. (Seibert, et al., 2019)) entsteht, sondern vielmehr konkret anwendbares Wissen, das direkt zur Problemlösung eingesetzt werden kann und eingesetzt wird.
In dem vorliegenden Artikel wird beispielhaft dargestellt, wie in den Wirtschaftsinformatik-Studiengängen der Hochschule Reutlingen diese Herausforderung innerhalb der Laborwelt „Financial and Actuarial Data Science“ angegangen wird. Vermittelt werden dabei zum Teil Lehrinhalte, wie wir sie aus der Aktuarausbildung kennen, insbesondere aus den Bereichen Finanzmathematik und
Data Science. So basiert beispielsweise die Master-Lehrveranstaltung „Data Science/Statistical Learning“ in dem genannten Studiengang auf einem Problem-Based-Learning-Ansatz (vgl. z. B. (Barell, 2006)). Bei der Umsetzung dieses Konzepts der fallbasierten Lehre wird anhand fiktiver Monte-Carlo-generierter Daten in dem Labor der Kontext einer realen Arbeitssituation hergestellt. Die Studierenden bekommen in jeder Lehrveranstaltung eine Aufgabenstellung – einen sogenannten Lernfall – und eignen sich in einem strukturierten Prozess das Fach- und Technologiewissen an, das zur Lösung der jeweiligen Aufgabe benötigt wird. Die Lernfälle sind dabei so konstruiert, dass sie aufeinander aufbauen und systematisch dazu führen, dass die Studierenden sich die Fachinhalte der Lehrveranstaltung (siehe (James, Witten, Hastie, & Tibshirani, 2021)) anhand konkreter Fragestellungen erarbeiten (müssen).
Ein wesentlicher Bestandteil der Ausbildung im Master-Studiengang Wirtschaftsinformatik (WIM) ist das sogenannte Jahresprojekt. Über zwei Semester hinweg bearbeiten Studierende ein Projektthema. Die Projektarbeit erfolgt oft in Zusammenarbeit mit Praxispartnern oder aber in einem reinen Hochschulprojekt.
Im Folgenden wird ein Einblick in das „Robo Advisor“-Projekt gegeben. Dabei handelt es sich genau genommen um ein Dauerprojekt, das von jährlich wechselnden studentischen Arbeitsgruppen bearbeitet wird. Es wird aufgezeigt, wie mit dem Projekt künftig erreicht werden soll, dass nicht nur Master-Studierende spannende und lehrreiche Inhalte vorfinden, sondern dass auch Studierende anderer Studiengänge davon profitieren und dass konkrete Forschungsansätze daraus abgeleitet werden können.
Das „Robo Advisor“-Projekt
Das Projekt „Robo Advisor“ wurde im Wintersemester 22/23 mit einem studentischen Jahresprojekt im Master-Studiengang Wirtschaftsinformatik gestartet und eine Erstversion eines Robo Advisor implementiert, d. h. einer webbasierten Softwarelösung, die auf Basis wissenschaftlicher Methoden vollautomatisch Kapitalanlageentscheidungen trifft und umsetzt. Der entwickelte Robo Advisor stellt dabei eine rein akademische Simulation auf Basis realer Daten dar, d. h., weder ist reales Geld involviert noch werden reale Transaktionen von Wertpapieren getätigt. Der entwickelte Robo Advisor ist unter der Adresse roboadvisor.reutlingenuniversity.de erreichbar, wobei ein Einloggen nur innerhalb des Hochschulnetzes möglich ist. Mittlerweile hat eine zweite Projektgruppe an dem Thema gearbeitet und ihr Projekt abgeschlossen.
Das Projektsetup erfolgt in der Form, dass der Dozent Auftraggeber von umzusetzenden Projektleistungen ist und die studentische Projektgruppe entsprechend Auftragnehmer. Dabei agiert das Projektteam so selbstständig wie möglich und nimmt die Rolle eines IT-Beraters ein. Die ersten beiden Aufgaben der Gruppe bestehen darin, die eigene Projektorganisation festzulegen und sich inhaltlich in den aktuellen Stand des Robo Advisor einzuarbeiten. Teil des Projektauftrags ist ein vorgegebenes Hauptthema, ein zweites Hauptthema wählt die studentische Projektgruppe
Abb. 1 Architektur des Robo Advisor

selbst nach eigenen Präferenzen aus der Entwicklungslandkarte (vgl. ff) aus. Die Studierenden müssen zum jeweiligen Abschluss der beiden Semester ihre Ergebnisse innerhalb des Studiengangs präsentieren und den Robo Advisor bei Hochschulveranstaltungen der (Hochschul-) Öffentlichkeit vorstellen. Letzteres zielt darauf ab, auch außerfachliche Kompetenzen zu fördern.
Aktueller Entwicklungsstand des Robo Advisor

gestellt. Das Frontend ist im Design der Webseite der Hochschule gehalten, im Backend sind insbesondere die Berechnungsmethoden zur Portfolioselektion und zum regelmäßigen Rebalancing der Portfolios implementiert. In der aktuellen Version werden die Portfolios mit dem wohlbekannten CAPM-Modell zusammengestellt (zu einer möglichen Umsetzung in Python vgl. z. B. (Hilpisch, 2020)).
Damit die individuellen Portfolios die Risikoeinstellungen der Nutzerinnen und Nutzer abbilden, wird bei Anlage eines neuen Kontos ein Fragebogen eingesetzt, der zuvor durch Befragung von Studierenden kalibriert wurde.
Für die (Weiter-)Entwicklung des Robo Advisor wird das Web-Framework Django1 verwendet. Entsprechend werden für die Anwendung Python, HTML, JS und CSS genutzt. Als Datenbank wird MariaDB2 eingesetzt. Die Versionsverwaltung erfolgt über GitLab3 und die Dokumentation des Robo Advisor wurde in Confluence4 umgesetzt. Zum Deployment dient docker5.
(Weiter-)Entwicklung und Betrieb des Robo Advisor ist sehr ressourcenintensiv und erfordert fachliches Know-how in Informatik, BWL/Finance und Mathematik/Statistik. Natürlicherweise ist die Entwicklungsgeschwindigkeit an der Hochschule nicht vergleichbar mit derjenigen von einem am Markt agierenden Robo Advisor, aber dafür werden die akademischen Ziele nachhaltig realisiert. Und das wichtigste und an erster Stelle zu nennende Ziel besteht darin, Master-Studierenden hochwertige und praxisrelevante Lehrprojekte zu bieten. Aber es sollen künftig auch Bachelor-Studierende in Form einer Didaktik-Plattform davon profitieren können. Ebenso sollen Forschungsvorhaben unterstützt und Beiträge zur Öffentlichkeitsarbeit geleistet werden. Damit all das systematisch gelingen kann, wurde eine Entwicklungslandkarte aufgesetzt, die im Folgenden in Grundzügen erläutert wird.
Entwicklungslandkarte

Die in Abbildung 2 dargestellte Entwicklungslandkarte ist Grundlage für künftige Weiterentwicklungen. Aufgrund der Weiterentwicklung mit jeweils nur einer studentischen Projektgruppe können immer nur einzelne Themenbausteine je Projektjahr umgesetzt werden. Die in der Entwicklungslandkarte dargestellten Elemente zeigen daher Weiterentwicklungspotenzial für mehr als die kommenden fünf
Projektjahre auf.
Ein ureigener (Selbst-)Zweck in der Entwicklung des Robo Advisor liegt wie bereits erwähnt darin, den Studierenden des Master-Studiengangs Wirtschaftsinformatik (WIM) kontinuierlich spannende und gleichzeitig herausfordernde Jahresprojekte bereitzustellen. Der Fokus liegt dabei sowohl auf der Anwendung aktueller Technologien als auch auf der Umsetzung und Anwendung von Modellen aus den Bereichen Finance und Data Science/Statistik. Dabei steht insbesondere auch der Umgang mit Daten im Fokus. Bei der Themenfindung für künftige Weiterentwicklungen werden die Studierenden des jeweils aktuellen Projekts sehr stark eingebunden. Daraus ist eine „Ideenliste“ entstanden, in die für die Folgeprojekte mögliche Themen aufgenommen werden. Diese Themen betreffen sehr stark
den Bereich der User Experience. Beispiele hierfür sind ein Chatbot, eine Mobile App oder auch mehrsprachige Unterstützung. Eine Aufgabe jeder Projektgruppe ist der Betrieb des Robo Advisor auf dem Produktivserver. Entwicklungen des Robo Advisor erfolgen zunächst lokal, für den Testbetrieb wurde ein Testserver aufgesetzt. Zumindest am Ende des Projektes ist es Aufgabe einer jeden Projektgruppe, ihren Entwicklungsstand auf dem Produktionsserver zu veröffentlichen. Dieser veröffentlichte Stand ist dann auch Gegenstand der Projektabschlusspräsentation.
Die künftigen Weiterentwicklungen sollen auch dazu genutzt werden, den Fokus auf einen möglichen Forschungsbeitrag zu richten. Zum einen mit der Perspektive, eigene Forschungsbeiträge zu liefern, zum anderen aber auch, um Studierende fachlich und methodisch an Forschungsarbeit heranzuführen. Fachlich gibt es verschiedene Ansatzpunkte (Fragebogen und dessen Übersetzung in Risikopräferenz, Risikomaße, Algorithmen zur Portfolioselektion, (Monte-Carlo-)Ansätze zur Parametrisierung, Integration von Data-Science-Konzepten, …). Wenn die jeweils notwendigen Bausteine aufgebaut sind, können Forschungsthemen beispielsweise in Form von Abschlussarbeiten vergeben und so die entwickelten Technologien für Forschungsarbeiten eingesetzt werden.
Fachliche Inhalte von Lehrveranstaltungen in Corporate Finance sind in der aktuellen Version des Robo Advisor umgesetzt (Parameterschätzung, Portfoliotheorie, CAPM). Die Benutzeroberfläche soll um didaktische Elemente (Abbildungen, Info-Kacheln mit Erläuterungen) angereichert werden sowie künftig auch Gamification-Elemente enthalten, sodass der Robo Advisor begleitend zu einer theoretischen Lehrveranstaltung eingesetzt werden kann, um den Einsatz der Theorie in einer praktischen Anwendung erlebbar zu machen. Konkret ist ein Einsatz in der Lehrveranstaltung Corporate Finance im Bachelor-Studiengang Wirtschaftsinformatik geplant, ein Einsatz in weiteren Lehrveranstaltungen ist denkbar.
Schließlich soll ein physischer Raum zu einem Erlebnisraum umgestaltet werden. Damit sollen die Funktionalitäten und Eigenschaften des Robo Advisor vor Ort erlebbar werden. Hierzu muss zum einen eine Designgestaltung erfolgen und Hardware installiert werden. Zum anderen muss die Hardware aber auch softwareseitig angesteuert werden – d. h., ein „Erlebnis-Modus“ ist zu entwickeln. Für Externe – beispielsweise Studieninteressierte – kann der Laborraum dann bei Veranstaltungen geöffnet werden, um am Beispiel des Robo Advisor zu erleben, wie projekt- und labororientierte Lehre gestaltet wird.
Abb. 2 Entwicklungslandkarte des Robo Advisor

Ausblick
Wie in dieser Arbeit dargestellt, bildet die projekt- und labororientierte Lehre einen wesentlichen Bestandteil der Ausbildung im Studiengang Wirtschaftsinformatik an der Hochschule Reutlingen. Ziel ist eine praxis- und anwendungsorientierte Lehre, die die Studierenden zu einem unmittelbaren praktischen Einsatz des Gelernten befähigt.
Wichtig ist zu betonen, dass projekt- und labororientierte Lehre kein Ersatz für theorievermittelnde Lehrformate ist, wie sie insbesondere in der Mathematik von sehr großer Bedeutung sind. Vielmehr ergänzen sich beide Lehrkonzepte, da die einen eher theoretische Aspekte im Fokus haben, währende die anderen sich der praktischen Anwendung widmen.
Die Laborwelt „Financial and Actuarial Data Science“ weißt derzeit unterschiedliche Perspektiven auf, die schrittweise noch weiter integriert werden sollen. Zum einen didaktisch, um die Lehrveranstaltungen noch weiter miteinander zu verzahnen. Als Bindeglied zwischen der Lehrveranstaltung „Corporate Finance“ und dem Master-Pojekt Robo Advisor sowie der Lehrveranstaltung „Data Science/Statistical Learning“ ist hierzu in naher Zukunft ein Wahlmodul „Finance with Python“ angedacht. Zum anderen sollen die Perspektiven auch fachlich weiter verknüpft werden, um im Zielbild einen virtuellen Finanzdienstleister simulativ abbilden zu können. Kundenverhalten wird in diesem Zielbild mit einem heute bereits vorhandenen Monte-Carlo- Simulationsmodell über die Zeit entwickelt, Kapitalanlagen werden vom Robo Advisor gemanagt. Und Studierende lösen in der fallbasierten Lehre Aufgaben für das virtuelle Unternehmen. Fast wie im echten Leben.
