Interview mit Susanna Adelhardt
Frau Adelhardt, wenn Sie heute auf Ihren Weg in das Ehrenamt blicken – war das ein klarer Plan oder eher ein organisches Wachsen?
Mein ehrenamtliches Engagement in der Deutschen Aktuarvereinigung hat nicht mit einem lauten Knall oder einem bestimmten Plan begonnen, sondern – wie bei vielen anderen engagierten Mitgliedern – mit kleinen Schritten, getrieben vor allem durch die Freude an fachlicher Arbeit. Wie bei nicht wenigen Kolleginnen und Kollegen war es auch bei mir ein Vorgesetzter, der den Anstoß gab: „Die Mitarbeit in dieser Arbeitsgruppe wäre doch etwas für dich – bewirb dich!“
Mein Startpunkt war 2012 die Mitarbeit in der Arbeitsgruppe Internationales des Fachausschusses Altersversorgung zur ersten Quantitative Impact Study bei EbAV von EIOPA, kurz QIS. Schon in dieser ersten Tätigkeit habe ich erlebt, wie kollegial die Zusammenarbeit ist – sowohl innerhalb der Arbeitsgruppe als auch arbeitsgruppenübergreifend. Denn die Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausschuss
Lebensversicherung hatten bei diesem Themenfeld schon deutlich mehr Erfahrungen sammeln können und gaben sie auch gerne weiter.
Von Beginn an habe ich Gremienarbeit wie ein Labor erlebt: Wir beleuchten ein Thema aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln, alle Ideen und Beiträge sind willkommen. Ziel ist es, möglichst viele Perspektiven zusammenzubringen – nicht, dass jemand sofort die eine richtige Antwort parat hat. Wirklich gute Ergebnisse entstehen auch in der ehrenamtlichen Arbeit nur im Team. Dass ich damals noch kein Mitglied der DAV war, spielte nie eine Rolle. Entscheidend war und ist der persönliche Beitrag, nicht Titel oder Stempel.
Gleichzeitig habe ich auch erkannt: Ehrenamt in der DAV bedeutet nicht, „mal eben“ irgendwo seine Meinung abzugeben. Es ist ein ernsthaftes Commitment. Es heißt, sich auf fachlich tiefgehende Diskussionen einzulassen, Dokumente intensiv zu lesen, Entwürfe zu kommentieren und Positionen zu entwickeln, die am Ende nach außen die Stimme der gesamten Profession repräsentieren.
Mit der Zeit konnte ich dann auch die Wirkung dieser Arbeit sehen: Ein Satz in einem Fachgrundsatz, den wir in der Arbeitsgruppe formulieren, kann unmittelbar Einfluss entfalten – auf Unternehmen, auf Versicherte, auf die Ausgestaltung von Gesetzen. Diese Verbindung von mathematischer Präzision und gesellschaftlicher Verantwortung hat mich nicht mehr losgelassen.
Wie ging es weiter?
Das Ehrenamt hat viele Facetten – und mit der Zeit kamen bei mir immer mehr hinzu: neue Aufgaben, die Leitung einer Arbeitsgruppe, die Mitarbeit in Ausschüssen und die Mitgliedschaft im IVS-Vorstand. Jede weitere Station hat im Grunde nur das Erlebnis und die Erfahrung vertieft, wie stark jeder Einzelne zum Erfolg eines Teams beiträgt und welche Wirkung ein Team gemeinsam entfaltet – nach innen in unsere Vereinigung und nach außen in die Öffentlichkeit, weit über den eigenen fachlichen Schwerpunkt hinaus.
Über die Leitung des Ausschusses Altersversorgung führte der Weg schließlich in den Vorstand der DAV – für mich ein besonderer Moment. In diesem Leitungsgremium tragen wir nicht nur Verantwortung für fachliche Positionen, sondern auch für die strategische Ausrichtung, die finanzielle Stabilität, die politische Sichtbarkeit und die Weiterentwicklung unseres Berufsstandes. Das bedeutet, ständig zwischen sehr unterschiedlichen Rollen zu wechseln: Mal bin ich die Fachfrau, die tief in aktuariellen Themen steckt, mal die Moderatorin zwischen verschiedenen Positionen, mal
die Interessenvertreterin im politischen Gespräch. Diese Vielschichtigkeit hat meinen Blick auf unseren Berufsstand nachhaltig geweitet.
Die Frage, ob ich den nächsten Schritt in den engeren Vorstand gehen möchte – zunächst als stellvertretende, jetzt als Vorstandsvorsitzende – hat mich sehr gefreut. Zugesagt habe ich jedoch nicht sofort, sondern mir ein paar Tage Bedenkzeit genommen. Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich mich an dem folgenden Wochenende nicht vollständig auf die Aufführung von Madame Butterfly bei
den Bregenzer Festspielen konzentrieren konnte.
In dieser Funktion sind Verantwortung und Sichtbarkeit naturgemäß noch einmal deutlich größer. Eine solche Entscheidung kann man daher auch nicht allein treffen. Die Unterstützung von Familie und Freunden ist ebenso notwendig wie die des Arbeitgebers. Ich war gewarnt worden: „Vorstandsvorsitz – das sind zwei Jahre Vollgas!“ Und dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – habe ich gerne zugesagt. Die Begeisterung für den Beruf und die Möglichkeit, wirklich etwas zu bewegen – ich konnte nicht ablehnen.
Welche Schwerpunkte setzen Sie als Vorsitzende im DAV-Vorstand?
Ein wichtiger Schwerpunkt ist für mich die Nachwuchsarbeit. Ich bin überzeugt: Der Erfolg der DAV in zehn oder zwanzig Jahren wird maßgeblich davon abhängen, wie wir heute junge Menschen – unsere Kolleginnen und Kollegen von morgen – erreichen. Es reicht nicht, ihnen nur eine fachliche Ausbildung zu bieten. Wir müssen ihnen auch das Gefühl geben, dass sie Teil einer Gemeinschaft
werden, deren Zukunft sie mitgestalten können. Diesen Weg in unsere Vereinigung nennen wir die „road to active membership“: eine Vielzahl von Aktivitäten für verschiedene Zielgruppen, alle mit dem Ziel, neue begeisterte und engagierte Mitglieder zu gewinnen.
Mit der „Young Actuaries Initiative“ (YAI) haben wir eine Plattform, die junge Aktuarinnen und Aktuare nicht nur aus Deutschland, sondern über Landesgrenzen hinweg zusammenbringt und ihnen den Raum gibt, sich zu vernetzen, fachlich zu wachsen und eigene Themen einzubringen. Ich halte es für zentral, dass wir als Berufsstand den Übergang vom Studium oder Quereinstieg ins Berufsleben hinein in unsere nationalen und internationalen Vereinigungen gut begleiten. Junge Mitglieder schätzen die Sichtbarkeit, Unterstützung und die Möglichkeiten, sich auszuprobieren. Deshalb bin ich nicht nur eine Unterstützerin dieser Initiative, sondern nehme gerne selbst an den Veranstaltungen teil.
Ein Seminar Ende letzten Jahres in Le Bischenberg nahe Straßburg war der Auftakt eines internationalen Projektformats im Rahmen der YAI, das ich als besonders wegweisend empfinde. 30 engagierte junge Aktuarinnen und Aktuare aus zwölf Ländern nahmen daran teil. Es ging nicht nur um Fachvorträge, sondern vor allem um Kommunikation, Führung und Networking – in interaktiven Workshops
unter dem Motto „Connected Minds. Stronger Impact“. Es ging um die Möglichkeit, sich zu vernetzen, über den nationalen Tellerrand zu schauen und Fähigkeiten zu entwickeln, die in der klassischen Ausbildung oft zu kurz kommen: Leadership, Kommunikation, ethische Fragestellungen, internationale Zusammenarbeit.
Bei diesem Seminar waren allerdings nicht die Vorträge mein Highlight, sondern die Atmosphäre des persönlichen und kulturellen Austauschs: Begegnungen, die über Adressen hinausgehen, Diskussionen, die Perspektiven öffnen. Man spürte den gemeinsamen Tatendrang junger Menschen, die sich nicht einfach einordnen, sondern aktiv Verantwortung übernehmen wollen – das ist für mich der Kern unserer Arbeit mit der YAI.
Ein Herzensprojekt von mir ist auch das Mathematische Sommerfest – eine Veranstaltung, die genauso bewusst über die rein fachliche Ebene hinausgeht und vor allem Schülerinnen und Schüler der Oberstufe anspricht (Bericht Seite 526). Wir haben die letzten beiden Jahre im Phantasialand und in diesem Jahr im Europa-Park gefeiert. Der Tag besteht je zur Hälfte aus Informationen über den Aktuarsberuf mit Workshops zu spannenden Fragestellungen und aus einem Besuch im Freizeitpark. Es geht auch bei diesem Format nicht nur um Achterbahnen, sondern genauso um das Erleben von Gemeinschaft. Wir bringen Menschen mit Begeisterung für Mathematik zusammen – Schülerinnen und Schüler ebenso wie erfahrene Kolleginnen und Kollegen. Und ich erlebe dort jedes Mal, wie schnell sich über eine gemeinsame Erfahrung – ob im Gespräch oder in der Warteschlange vor einer Attraktion – Brücken schlagen lassen.
Die Rückmeldung nach dem Tag im Europa-Park hat mich besonders gefreut und zeigt gleichzeitig, mit wie viel Begeisterung alle bei der Sache sind: „Heute Morgen war noch klar, dass der Nachmittag im Freizeitpark das Highlight wird. Jetzt am Abend ist klar, dass es der Vormittag mit den Workshops war.“ Meine zentrale Vision ist: Wir müssen junge Talente früh erreichen – mit Formaten, die fachliche Exzellenz und persönliche Inspiration verbinden.
Sie haben in Ihrer Agenda auch internationale Arbeit stark betont. Warum ist das so wichtig?
Unser Beruf lebt davon, dass wir über Grenzen hinweg zusammenarbeiten. Die Fragen, die wir als Aktuarinnen und Aktuare beantworten, sind oft global: Klimarisiken, Demografie, Kapitalmärkte – all das lässt sich nicht isoliert national betrachten. Ebenso werden viele Rahmenbedingungen, unter denen wir arbeiten, nicht in Deutschland entschieden. Solvency II, IORP II, der AI Act – das sind
europäische Themen. Wenn wir uns nicht frühzeitig einbringen, werden Entscheidungen getroffen, die später in der Praxis Probleme bereiten können. Wir bringen die Perspektive der deutschen Aktuare ein – und holen Impulse aus anderen Ländern zu uns. Wir arbeiten an Stellungnahmen für die EU-Kommission, an Konsultationen, an Studien. Das ist nicht immer glamourös, oft detailreich und zäh – aber genau so stellt man Weichen.
Im Pension Committee der AAE sehe ich, wie unterschiedlich Länder mit ähnlichen Herausforderungen umgehen. In manchen Ländern liegt der Schwerpunkt stärker auf Kommunikation und öffentlicher Debatte, in anderen – wie bei uns – auf technischer Exzellenz. Die Mischung aus beidem ist unschlagbar.
Das klingt nach einem sehr dichten Kalender. Wie schaffen Sie es, Ihre Energie zu bewahren?
Das gelingt nur, weil ich mir ganz bewusst Prioritäten setze und Freiräume schaffe, kleine Inseln im Alltag. Ich nenne das „Kurzzeiterholung“ – kleine, bewusst gesetzte Pausen, die mich sofort wieder aufladen. Mein Garten ist dabei mehr als ein Hobby – er ist ein Rückzugsort, an dem ich mich erde und Bodenhaftung finde, wenn die Themen im Kopf zu abstrakt werden. Wenn ich Rosen schneide oder Unkraut jäte, bin ich vollkommen bei der Sache. Das tut nicht nur gut, es bringt mich auch auf andere Gedanken, und oft fallen mir gerade dann Lösungen ein, die am Schreibtisch nicht kommen wollten. Musik ist meine zweite große Quelle. Das Klavier begleitet mich seit meiner Kindheit, und es ist ein Instrument, das nicht nur Töne, sondern Stimmungen transportiert. Bach zu spielen ist für mich, als würde man Ordnung in ein komplexes Gedankengebäude bringen. Dieses „Finger ausschütteln“ ist für mich wie ein Reset.
Oder ich gehe spazieren – gerne auch mit der Kamera in der Hand. Dabei halte ich kleine Details fest, die nicht sofort ins Auge springen: einen Lichtstrahl, der durch die Bäume fällt, eine Pflanze in einer Mauerritze, eine Spiegelung im Wasser. Das zwingt mich, präsent zu sein, aber auch – im wahrsten Sinne des Wortes – öfter den Blickwinkel zu wechseln. Dazu kommt gemeinsames Kochen mit Freunden oder meinen Töchtern sowie gelegentliche Auszeiten, in denen ich Dienstreisen um einen privaten Tag verlängere – sei es in den Highlands oder in einer Stadt, die ich noch nicht kenne.
Was wünschen Sie sich von den Mitgliedern?
Mut, Neugier und Beteiligung. Mut – sich auch zu Themen zu äußern, die neu sind. Neugier – andere Perspektiven anzuhören. Beteiligung – Ideen einzubringen, statt sie für sich zu behalten. Ehrenamt lebt davon, dass Menschen ihre Zeit und ihre Perspektive teilen. Ich wünsche mir, dass sich auch diejenigen beteiligen, die vielleicht noch nie darüber nachgedacht haben. Die DAV ist keine ferne
Institution – sie ist die Summe ihrer Mitglieder. Und je mehr unterschiedliche Blickwinkel wir einbeziehen, desto besser können wir unsere Aufgabe erfüllen.
Was wünschen Sie sich für die DAV und für das Ehrenamt in den nächsten Jahren?
Ich wünsche mir, dass wir vorangehen – im Denken, im Handeln, im Ausprobieren. Dass wir uns nicht davor scheuen, neue Formate zu testen, internationale Partnerschaften zu vertiefen und auch unbequeme Themen anzupacken. Für das Ehrenamt heißt das: Wir müssen es attraktiv gestalten – sowohl für erfahrene Kolleginnen und Kollegen als auch für den Nachwuchs. Das bedeutet Anerkennung, Sichtbarkeit und die Chance, wirklich etwas zu bewegen. Und wir müssen die Balance zwischen unserer bewährten fachlichen Basis und dem Mut, neue Wege zu gehen, zwischen Tradition und Innovation, finden. Unsere starke fachliche Basis ist ein Fundament, auf dem wir aufbauen können – aber wir dürfen uns nicht darauf ausruhen. Themen wie Klimarisiken, künstliche Intelligenz und Data Science, aber auch ethische Fragen werden in den nächsten Jahren massiv an Bedeutung gewinnen. Die DAV muss hier nicht nur reagieren, sondern proaktiv Positionen entwickeln, die Orientierung geben – sowohl für die Mitglieder als auch für die Öffentlichkeit.
Wir als Aktuarinnen und Aktuare tragen dabei eine besondere Verantwortung. Wir arbeiten an Themen, die für das Leben vieler Menschen entscheidend sind – Altersvorsorge, Gesundheitswesen, Risikomanagement, Versicherbarkeit. Das ist mehr als Mathematik. Es ist ein Beitrag dazu, dass Systeme funktionieren und Menschen sich auf Zusagen verlassen können. Was mich antreibt, ist auch die Freude am Gestalten. Ich möchte, dass wir im internationalen Kontext als Partner wahrgenommen werden, der fachlich exzellent ist und gleichzeitig offen für neue Entwicklungen. Und dass wir als
Berufsstand sichtbar sind – so sichtbar, dass junge Menschen sagen: „Das will ich auch machen.“
Letzte Frage – was würden Sie jemandem raten, der überlegt, sich im Ehrenamt zu engagieren?

Einfach machen und ausprobieren! Nicht warten, bis vermeintlich alles passt. Es gibt keinen perfekten Zeitpunkt, und man muss nicht alles können, bevor man anfängt. Das Ehrenamt lebt davon, dass man bereit ist zu lernen, sich einzubringen, und auch einmal außerhalb der eigenen Komfortzone zu arbeiten.
Und: Suchen Sie sich Themen, die Sie wirklich begeistern. Dann ist Engagement keine Last, sondern eine Quelle von Energie – selbst in arbeitsreichen Zeiten.