Interview mit Prof. Dr. Martin Werding zum Thema Alterssicherung

Die Ampel Regierung hatte das Ziel, das Niveau der gesetzlichen Renten langfristig zu stabilisieren. Manche Sozialpolitiker würden nun sagen: Daran kann man doch gar nichts aussetzen, da es den Rentnern schließlich gut gehen soll. Was kritisieren Sie daran?
Das Thema Haltelinie steht ja schon länger im Raum. Ich habe mich schon vor der letzten Legislaturperiode, während der Legislaturperiode, unter anderem im Bundestag in der Anhörung zum Gesetzentwurf, und auch jetzt konsequent dagegen ausgesprochen. Mit der Aussage, man wolle die Rente sichern und stabilisieren, wird etwas vorgegaukelt, was im Kontext des demografischen Alterungsprozesses so gar nicht machbar ist. Darüber hinaus konterkariert dieses Vorhaben die Serie an Reformen, die in der ersten Säule Anfang der Nullerjahre von unterschiedlichen Regierungen durchgeführt wurden und die als Paket betrachtet im Grunde wirklich einen Weg aufgezeigt haben, mit der Alterung fertigzuwerden. Dazu gehört die Teilung der Last zwischen Alt und Jung im gesetzlichen Rentensystem mithilfe des Selbststabilisierungsmechanismus‘ „Nachhaltigkeitsfaktor“, der Einnahmen und Ausgaben berücksichtigt. Außerdem gehört die Erhöhung der Regelaltersgrenze dazu, die sich auf die 67 zubewegt, wo es dann zunächst mal enden wird. Schließlich hat man im Zuge der zunehmenden Begrenzung der Sicherungsfunktion der ersten Säule ergänzende Kapitaldeckung etabliert, indem die Riester- und Rürup-Renten aufgelegt wurden. Insgesamt betrachtet war das eine Gesamtstrategie, die mit Rückenwind vom Arbeitsmarkt und von einer so nicht erwartbaren Zuwanderung tatsächlich bis etwa 2020 getragen hat. Es war aber vorher schon absehbar, dass man ungefähr dann nachsteuern müsste, nämlich sobald der Alterungsschub durch den sukzessiven Renteneintritt der Babyboomer beginnt. Jetzt bedarf es unter anderem einer Bestandsaufnahme, wie es um die ergänzende Kapitaldeckung steht, einer weiteren Anpassung der Regelaltersgrenze, aber auch einer Bewertung, wie wir in der gesetzlichen Rente mit einer Lastenteilung zwischen Jung und Alt weiter vorankommen. Diese Lastenteilung wurde von der Ampel-Regierung aufgekündigt mit der klaren Ansage, es solle keine weitere Anhebung der Regelaltersgrenze geben und das Rentenniveau sei festzuschreiben. Damit wird der Druck aus der demografischen Alterung einseitig nur noch an die jüngeren Beitragszahlerinnen und Beitragszahler weitergegeben.
Sie sehen darin ein Gerechtigkeits- bzw. Verteilungsproblem?
Das ist eben nicht nur ein Verteilungsproblem, sondern ein Risiko für unsere zukünftige wirtschaftliche Entwicklung. Die Beitragssätze – neben der Rentenversicherung auch noch die Kranken- und Pflegeversicherung – sind jetzt schon über der Grenze von 40 Prozent und steigen zukünftig deutlich, auf 50 Prozent und noch weiter. Die Frage ist nicht „ob“, sondern nur „wann“. Das ist wirtschaftspolitisch ein Problem und mittel- bis langfristig auch sozialpolitisch, weil es den Ausweg versperrt, dass jüngere Menschen neben den Sozialbeiträgen, die sie entrichten, auch noch ergänzende Vorsorge betreiben. Das Sicherungsniveau festzuschreiben,
löst in diesem Kontext überhaupt kein Problem und ist auch nicht durchhaltbar. Spätestens im Jahr 2027 springt der Beitragssatz der Rentenversicherung auf annähernd 20 Prozent und dann werden wir darüber diskutieren,
wie ein weiterer Anstieg zu verhindern ist. Momentan machen wir als Gesellschaft davor noch die Augen zu.
Ist die Alternative, immer mehr Steuermittel zuzuschießen?
Als wir im Bundeshaushalt noch die Schwarze Null und im Rentensystem temporär die doppelte Haltelinie eingeführt haben, also auch eine Begrenzung der Beitragssätze, wäre es vielleicht noch vorstellbar gewesen, dort den Einstieg zu finden. Aber auch damals hat aus meiner Sicht schon gegolten, dass sich das nicht durchhalten lässt. Denn die Summe, die man aufbringen müsste, um die Lücke im Sicherungsniveau zu füllen, ohne Beiträge anzupassen, hätte sich schnell auf hohe zweistellige Milliardenbeträge pro Jahr summiert – zusätzlich zum jetzt schon die Spielräume im Bundeshaushalt einengenden Zuschuss zur Rentenversicherung. Mittlerweile scheidet das komplett aus. Angesichts der aktuellen Finanzlage und der Bestrebungen, massiv Geld für Verteidigung und Infrastruktur zu reservieren, wäre es kaum denkbar, dasselbe auch noch für Sozialfinanzen zu tun. Höhere Staatsverschuldung, die nicht Investitionen, sondern laufende Konsumausgaben beträfe, wäre ohnehin ein finanzpolitisches No-Go.
Sie sprachen notwendige Maßnahmen zur Ausrichtung der gesetzlichen Rentenversicherung schon an. Welche Dinge empfehlen Sie konkret bzw. stellen Sie in den Raum?
Im Sachverständigenrat haben wir eine recht einfache Analyse angestellt: Der Anstieg des Altenquotienten hat im Wesentlichen zwei Gründe, nämlich steigende Lebenserwartung und gesunkene Geburtenzahlen. Hinzu kommt als temporärer Beschleunigungsfaktor der Renteneintritt der Babyboomer. Es gibt passende Reformoptionen für die beiden grundlegenden Phänomene. Bei steigender Lebenserwartung ist das ein Mitziehen der Regelaltersgrenze um circa zwei Drittel des Anstiegs der Lebenserwartung. Diese Zeit müsste dann länger gearbeitet werden. Damit neutralisiert man den Effekt für das Rentenbudget, weil so das jetzige Verhältnis von zwei Dritteln Erwerbsjahren und
einem Drittel Rentenphase für aktuell 20-Jährige konstant gehalten werden kann. Nach Ihren Berechnungen würde das einer moderaten Anhebung ab 2031 um sechs Monate alle zehn Jahre bedeuten. Genau, das ist das Ergebnis, wenn man die aktuellen mittleren Annahmen des Statistischen Bundesamtes zur zukünftigen Entwicklung der Lebenserwartung zugrunde legt. Zugegebenermaßen halte ich diese für ein wenig zu zurückhaltend. Am Ende kommt es nicht auf die sechs Monate an, sondern auf die Zwei-Drittel-/Ein-Drittel-Regel. Wenn man diese bezogen auf die Lebenserwartung umsetzt, löst man dieses Thema.
Hinzu kommen die von Ihnen angesprochenen gesunkenen
Geburtenzahlen.
Richtig, darauf kann man im Umlagesystem natürlich nicht direkt antworten. Hier brauchen wir mehr ergänzende Kapitaldeckung durch die zweite oder dritte Säule. Wenn man beides macht, also die Anpassung des Renteneintritts an die Lebenserwartung und die Stärkung der Kapitaldeckung, hat man die Probleme längerfristig im Griff. Nicht lösen lässt sich dadurch aber der kurzfristige beschleunigte Anstieg durch die Babyboomer. Hier bedarf es einer Lösung, die das Schutzversprechen der Rentenversicherung hält, aber die Beiträge dennoch nicht so schnell und stark steigen lässt. Wir haben als Sachverständigenrat drei Möglichkeiten aufgezeigt, ohne eine zu präferieren. Auch eine Kombination aus zweien wäre eine Option.
Man könnte zum einen den Nachhaltigkeitsfaktor verstärken. Bisher wird mit diesem Faktor ein Viertel der demografisch bedingten Last in Dämpfungen der Rentenanpassungen umgesetzt, drei Viertel landen bei den Beitrags- und
Steuerzahlenden. Das kann man auch auf 50 zu 50 stellen. Dies würde die Umverteilung von jüngeren zu älteren Versicherten begrenzen, die in der GRV durch die demografische Alterung ausgelöst wird. Das setzt aber gerade
Bezieher niedriger Renten unter Druck.
Man könnte auch die lohnorientierte Anpassung der Renten umstellen auf inflationsorientierte Rentenanpassungen aller Bestandsrenten. Es gäbe dann höhere Renten beim Rentenzugang als beim jetzigen Recht, aber sie würden anschließend nicht mehr so stark ansteigen, weil sie nur noch an die Preisentwicklung angepasst werden. Das Niveau, gemessen an den laufenden Löhnen, würde mit der Zeit erodieren. Das belastet dann vor allem Personen, die besonders lange Rente beziehen, nicht aber vor allem Bezieher niedriger Renten, wie es bei der Variante der Anpassung des Nachhaltigkeitsfaktors der Falle wäre.
Bei der dritten Möglichkeit, die wir aufgezeigt haben, würde statt der Umverteilung zwischen den Generationen, die vornehmlich zulasten der jüngeren Generation geht, ein Stück weit Umverteilung innerhalb der Rentnergeneration
eingeführt, also zwischen hohen und niedrigen Renten moderat umgeschichtet. Entgeltpunkte am oberen Rand der Einkommensverteilung würden dann nicht linear eins zu eins anwachsen, sondern mit einem gewissen Abschlag
versehen. Oberhalb des Durchschnittseinkommens würde dann ein niedrigerer Umrechnungsfaktor gelten.
Die gesetzliche Rentenversicherung wird immer so behandelt, als gelte für sie das Äquivalenzprinzip. Das stimmt so ja gar nicht. Ihr Vorschlag zahlt im Prinzip darauf ein.
Man muss einfach mal international vergleichen. Wir fahren die gesetzliche Rente seit 1957 relativ strikt nach diesem Äquivalenzprinzip, was die regulären beitragsbezogenen Entgeltpunkte betrifft. Andere Länder machen das nicht
so strikt. Die Schweiz ist ein gutes Beispiel. Betriebliche Vorsorge ist dort obligatorisch und hat eine viel wichtigere Rolle als bei uns. Das staatliche Rentensystem weist dagegen eine relativ hohe Mindestrente und eine vergleichsweise niedrige Höchstrente auf.
Blicken wir doch mal auf Deutschlands Situation bei der zusätzlichen Vorsorge. Riester stagniert, auch die betriebliche Altersversorgung ist nicht auf dem Wunsch-Level. Sie zeichnen ein etwas positiveres Bild, oder?
Zumindest kann man festhalten, dass die ergänzende Vorsorge verbreiteter ist, als es in Diskussionen über die Rente oft scheint. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat erst vor Kurzem eine Studie veröffentlicht, nach der lediglich 17 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten neben der gesetzlichen Rente gar keine ergänzende Vorsorge betreiben. Das ist nicht viel. Die Versorgungslücke ist also deutlich kleiner als vielfach kolportiert. Was wir an der Stelle allerdings nicht wissen, ist, wie hoch diese ergänzende Vorsorge ist und wie gut sie ist.
Sehen Sie also eher keinen Reformbedarf in bAV und staatlich geförderter privater Altersvorsorge?
Ich denke schon, dass es Reformbedarf gibt. Vor allem in der dritten Säule. Riester so fortzusetzen, wie es ist, ist nicht tunlich. Dieses Modell mit starker Garantie des Nominalwertes der angesparten Beiträge, die von Anfang an verhindert hat, hier ertragsstarke Anlageformen zu wählen, und die im Kontext der Niedrigzinsphase komplett in die Klemme geraten ist, weil niedrige Erträge und vergleichsweise hohe Kosten aufeinandertrafen, bringt nicht den nötigen Mehrwert. Da hatte die Ampel-Koalition ja auch konkrete Pläne entwickelt, anknüpfend an die Fokusgruppe private Altersvorsorge, deren Empfehlungen in den Gesetzesentwurf des Finanzministeriums mündeten, der aktienbasierte Vorsorge in den Mittelpunkt rückte. Wir vom Sachverständigenrat hätten uns da noch mehr Verbindlichkeit gewünscht. Aber im Prinzip war das ein brauchbares Konzept.
Spannend ist auch die zweite Säule, da wir hier eine größere Abdeckung haben. Größere Reformen waren da eigentlich nicht vorgesehen, eher Justierungen. Etwa die Öffnung des Sozialpartnermodells, das bis heute noch wenig
umgesetzt ist. Ich hielte das auch für vernünftig. Auch in der bAV gäbe es noch weitere regulatorische Optionen, etwa eine Opt-out-Lösung, die die weitere Verbreitung stärken könnte. In Großbritannien ist dies das wesentliche Vehikel der Lebensstandardsicherung im Alter. Wir haben uns im Rat für ein Opt-out bei der ergänzenden Vorsorge ausgesprochen, aber auch für ein klares Framing. Eine temporäre Nicht-Teilnahme sollte möglich sein, denn je nach Lebenssituation kann phasenweise mehr Netto-Einkommen für andere Zwecke nötig sein, etwa eine Familiengründung oder den Einstieg in eine Immobilienfinanzierung. Wichtig ist, dass gerade die, die unsicher sind, nicht draußen stehen, sondern dabei sind. Unsicherheit sollte nicht dazu führen, gar nicht vorzusorgen. Ich denke im Übrigen, betriebliche Altersversorgung wird wegen der Herausforderungen des gesetzlichen Rentenniveaus von allein ein Argument auf dem Arbeitsmarkt werden, sodass sich Arbeitgeber verstärkt engagieren werden.
Da wir über Kapitaldeckung sprechen. Es war von der alten Regierung vorgesehen, einen Teil der gesetzlichen Rente durch Kapitaldeckung anzureichern. Was halten Sie denn generell davon, das Umlagesystem mit kapitaldeckenden Elementen zu ergänzen, die ja eigentlich schon in den Säulen zwei und drei vorhanden sind?
Mit der konkreten Ausgestaltung des sogenannten Generationenkapitals konnte ich gar nichts anfangen. Die Schuldenfinanzierung ist auf kleiner Basis – und mehr war ja nicht geplant – finanzpolitisch noch nicht gefährlich. Aber
sie bringt eben auch nichts. Ein solcher Zinseszinsprozess, sofern er wie erhofft eintrifft, muss viele Jahrzehnte wirken, um überhaupt nennenswerte Beträge zu generieren. Man kann natürlich Kapitaldeckung in einem staatlichen System betreiben. Viele Länder tun das auch mit sogenannten demografischen Pufferfonds. Das hat seine Vorteile, aber eben auch massive Risiken.
Die Vorteile sind die einer verbindlichen Lösung. Es bräuchte kein Opt-out oder zusätzliche Anreize. Jeder, der in die GRV einzahlt, profitiert auch davon. Zum Zweiten wäre auch Erwerbsminderung mit abgesichert. Zum Dritten würde den Versicherten nicht so augenfällig, wie im Kontext des demografischen Alterungsprozesses das Umlage-Rentenniveau langsam heruntergeht.
Die Risiken liegen darin, dass zu klären wäre, wem dieser Kapitalstock gehört und dass dieser auch zweckgerecht verwendet wird. Die FDP hatte vor der Bundestagswahl 2021 Pläne, bei denen Beitragsmittel zum Aufbau eines
Deckungsstocks mit individuellen Konten gebraucht worden wären. Dann profitieren genau die, die zum Aufbau des Kapitalstocks beitragen, bei ihrer Alterssicherung davon. Wenn man diesen Weg nicht gehen will, kann es immer
passieren, dass angesichts der daraus generierten Erträge andere Zuströme zum Rentenbudget wie etwa der Bundeszuschuss gekürzt werden. Dadurch würde die Finanzierung ausgehöhlt. Da sind Lösungen in der zweiten und dritten Säule eigentlich immer überlegen.
Der Begriff „Zeitenwende“ ist leider ein wenig überstrapaziert worden. Er kommt einem aber in den Sinn, wenn man die Entwicklungen des transatlantischen Bündnisses in den vergangenen Monaten betrachtet. Haben Sie Bedenken, dass andere Themen, die mit Recht sehr ernst genommen werden, nämlich Verteidigung und die Infrastruktur, dazu führen, dass die ebenfalls sehr relevante Herausforderung des demografischen Wandels und der Alterssicherung liegen gelassen werden?
Das ist ein absolut reelles Risiko und, was das Thema Verteidigung angeht, ja auch sehr verständlich und berechtigt. Noch bis vor kurzer Zeit hätte ich gedacht, wir müssen uns dafür wappnen, dass in der Nato nicht mehr nur zwei
Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung auszugeben sind, sondern vielleicht drei oder mehr Prozent. Die jüngsten Ereignisse stellen uns da vor eine völlig neue Situation. Die Verknüpfung der Entscheidung für höhere
Verteidigungsausgaben mit enormen Summen für Infrastruktur halte ich für nicht gerechtfertigt und darüber hinaus für politisch bedenklich. Diese Diskussionen verdecken dann leider auch den Reformbedarf, den wir im Bereich der
sozialen Sicherung haben. Das betrifft die Rente, das betrifft aber auch noch mehr Krankenversicherung und Pflege, wo die Ausgaben jetzt schon sehr stark steigen und überhaupt nicht in Sicht ist, wie wir das wieder eindämmen. Die steigenden Ausgaben dort haben noch nicht einmal etwas mit demografischer Alterung zu tun, sondern mit zu hohen Kosten und echten Ineffizienzen. Dem wird nicht entgegengewirkt, es wird bisher sogar kaum darüber diskutiert. Die derzeitige Wirtschaftskrise ist sozialpolitisch also nicht das Kernproblem, denn große Reformen wurden historisch gesehen genau in solchen Phasen angegangen. Aber die Dinge, die sich jetzt so in den Vordergrund drängen – Verteidigung mal ausgenommen – könnten dazu führen, dass Strukturreformen im Bereich der sozialen Sicherung verhindert werden. Dann hätten wir wieder vier Jahre verloren. Gerade bei der ergänzenden Kapitaldeckung ist Zeit aber ein sehr wesentlicher Faktor.
Das Interview führte Martin Brandt.