DAV und DGVFM – Praxis und Wissenschaft treffen sich an mythischem Ort
DGVFM im MFO
Der DGVFM, die auch Mitglied im Verein der Freunde von Oberwolfach ist, ist es jetzt gelungen, am 13. Juli 2024 Räume des MFO für einen Workshop zu erhalten, auf dem sich 22 Praktiker und Wissenschaftler aus der deutschen Finanz- und Versicherungsindustrie bzw. der Finanz- und Versicherungsmathematik trafen, um sowohl neue, praxisrelevante Konzepte und Resultate aus der Wissenschaft vorzustellen als auch praktische Probleme und Lösungen zu präsentieren, die für die Wissenschaft und Kolleginnen und Kollegen aus der Praxis interessant sind.
Da Oberwolfach zwar im Schwarzwald sehr idyllisch gelegen, aber andererseits auch nicht gerade schnell zu erreichen ist, war eine Anreise am Vortag zweckmäßig. So begann der Workshop auch mit einem gemeinsamen Essen am Freitagabend in einer typischen Schwarzwälder Vesperstube, die zwar keine Pommes Frites als Beilage, dafür aber viele lokaltypische Gerichte bis hin zu einer Hanswurstplatte (ja, die hieß wirklich so und hielt auch das, was man sich von ihr versprach) anbot. Natürlich wurde das Essen in erster Linie genutzt, um neue Kontakte zu knüpfen
bzw. bewährte Kontakte aufzufrischen.
Am Samstagmorgen startete der Workshop um 8:30 Uhr mit der Begrüßung durch den Leiter der wissenschaftlichen Administration des MFO, Prof. Dr. Stefan Klaus, der nicht nur nette Worte für die Teilnehmer und Teilnehmerinnen fand, sondern auch einen Imbiss für die Kaffeepause und das Mittagessen organisiert hatte und dem hiermit noch einmal ganz herzlich gedankt sei!
Da erfreulicherweise sehr viele Anwesende einen Vortrag halten wollten, aber zum einen die Workshopdauer auf 8:30-16:00 Uhr beschränkt war und zum anderen auch viel Zeit für Fragen und Diskussion vorhanden sein sollte, wurde ein neues Konzept getestet, bei dem jeweils zwei Vorträge zu 15 Minuten um eine 15-minütige Kaffeepause ergänzt wurden. Zwar musste die Kaffeepause im Laufe des Workshops oft etwas gekürzt werden, aber durch die kurzen Vorträge und die Möglichkeit, sowohl im Plenum Fragen zu stellen als sich auch um die Kaffeemaschinen
zu drängen, konnten alle Referenten ihre Vorträge in voller Länge halten und es kam keine Langeweile auf. Dabei wurden jeweils zwei passende Themen kombiniert.
Die Teilnehmenden der Workshops
Dr. Leonie Ruderer bei Ihrem Vortrag
ersten Block standen Monte-Carlo-Verfahren im Mittelpunkt. So gab Ralf Korn (RPTU Kaiserslautern) eine Einführung in die Anwendung des Importance Sampling als Methode der Vermeidung unwichtiger Monte-Carlo-Simulationen, ein Thema, das von Susanna Adelhardt (Heubeck) und Markus Gottwald (Deutsche Rück) angeregt wurde und bei der Bewertung von exotischen Optionen oder bei VaR-Berechnungen gewinnbringend eingesetzt werden kann. Danach stellte Anne-Sophie Krah (Generali) eine neue Variante des LSMC-Ansatzes zur Berechnung des Solvenzkapitals vor, die sogenannte LSCM-Lite-Methode. Hierbei besteht die Innovation darin, dass bei moderaten Modelländerungen Simulationen und Ergebnisse vor der Modelländerung als Kontrollvariante genutzt werden können, wodurch die Varianz des Monte-Carlo-Schätzers reduziert wird. Dies bedeutet, dass bei gegebener Anforderung an die Genauigkeit Simulationsläufe eingespart
werden können.
Der nächste Block hatte das Risikomanagement im Fokus. Wolfgang Müller (SV Sparkassenversicherung) stellte einen Optimierungsansatz samt Implementierung vor, mit dem sich Probleme der strategischen Assetallokation unter einer Vielzahl von Nebenbedingungen behandeln lassen. Dabei spielt die Theorie der konvexen Optimierung eine zentrale Rolle. Gerhard Stahl (HDI) erläuterte einen neuen ERM-Ansatz, der einen Paradigmenwechsel vom risikobasierten zum resilienzbasierten Management beinhaltet. So ist beispielsweise die Trajektorie bei der CO2-Emmission das Zielobjekt, nicht etwa ein hohes Quantil. Methoden der Kontrolltheorie stellen deshalb einen geeigneten Rahmen dar. Nach einer diesmal recht kurzen Kaffeepause stellte Michael Gräf (SV Sparkassenversicherung) verschiedene Konzepte zur Definition und Berechnung von Effektivkosten von Versicherungsanlageprodukten vor und äußerte den Wunsch einer Vereinheitlichung des Konzepts der Reduction in Yield aus finanzmathematischer Sichtweise. Henryk Zähle (Universität Saarland) widmete sich der Fragestellung, ob es wichtiger sei, die Marginalverteilungen einzelner Faktoren oder ihre zugehörige Copula möglichst exakt zu spezifizieren. Das von ihm vorgestellte Konzept der Sensitivitäten im Hinblick auf die jeweilige Problematik (Risikomaße, Portfoliomanagement, …) zeigte erste vielversprechende Resultate.
Der einzige reine KI-Block wurde von Ralf Werner (Universität Augsburg) und Stefan Jaschke (Infinada) bestritten. Dabei stellte Ersterer ein Konzept zur Szenariogenerierung im FX/Zinsbereich mittels variationellem Autoencoder (VAE) vor, das analoge Ideen der Zerlegung von Zinskurven wie das dynamische Nelson-Siegel-Modell in Hauptkomponenten aufgreift, dabei aber keine parametrischen Vorgaben benötigt. Stefan Jaschke gab einen Abriss über die Entwicklung der KI in den letzten Jahrzehnten und gab mit der Frage „Ist KI kontrollierbar?“ als eine wesentliche Aufgabe die Überprüfung komplexer Prognosemodelle und KI aus. Mit der Reform der Altersvorsorge und Aspekten der Fokusgruppe Altersvorsorge wie der Ausgestaltung der Rentenphase stellte Katja Krol (GDV) ein hochaktuelles Thema vor, wobei sie auch deutlich auf die Risiken einer zeitlich begrenzten Rentenphase für den Kunden hinwies. Von ähnlicher Aktualität aber anderer Thematik war der Beitrag von Leonie Ruderer (R+V), die Reservierungsaspekte bei Cyberversicherungen vorstellte und den bemerkenswerten Satz prägte, dass das Problem nicht die spektakulären Einzelfälle, sondern die Basisfälle sind, die in der Reservierung das Problem darstellen. Sie forderte deshalb auch zu weiteren Modellentwicklungen im Cyberversicherungsbereich auf.
Die Inflation prägte den ersten Block nach der Mittagspause. So stellte Björn Hille (HDI) Risiken der Inflation bei Sachversicherern vor, warf die Frage nach dem geeigneten Index zur Messung der Inflation auf und zeigte den Einfluss der Inflation bei der Reservierung sowie bei internen im Rahmen von Solvency-II-Berechnungen. Roman Horsky (Fraunhofer ITWM) zeigte in seinem Vortrag „Verbraucherschutz und Inflation“ auf, wie Industrieprojekte zu angewandter Vorlaufforschung am Fraunhofer ITWM führen und dass die hohe Inflation der letzten Jahre Realwertbetrachtungen in den Fokus von Anbietern und Aufsicht gerückt hat. Zwei eher informelle, dafür aber nicht weniger interessante Projekte standen im Fokus des nächsten Blocks. So brachte Roland Voggenauer (Allianz) das Datenbankprojekt der DGVFM ins Spiel, betonte seine Wichtigkeit für Forschung und Lehre, warf aber auch mögliche Bedenken rechtlicher und organisatorischer Natur auf Anbieterseite ein. Es entspann sich eine teils kontroverse Diskussion, die auch die Strategietage von DGVFM und DAV beeinflussen könnte. Markus Gottwald und Susanna Adelhardt stellten einen weiteren praktischen Aspekt in den Vordergrund, nämlich die Schätzung bei nicht vorhandenen Daten, weil z. B. ein neuer Geschäftsbereich oder ein grundlegend neues Produkt (Stichwort BU für Schüler) an den Markt drängt. Auch hier wurde ausführlich diskutiert.
Eine eher theoretische Mischung mit Anwendungsaspekten stellten die beiden Vorträge von Rudi Zagst (TU München) und Hanspeter Schmidli (Universität Köln) dar. Bei ersterem ging es um das optimale Management eines Pensionsfonds ohne Garantien, wo Rentenkürzungen und -anhebungen entsprechende Steuervariablen sind. Mittels Anwendung zeitdiskreter Steuerungsmethoden konnten interessante numerische Beispiele gegeben werden. Die Anwendung stochastischer Steuerungsmethoden war auch im Vortrag von Hanspeter Schmidli das gewählte Vorgehen. Durch Minimierung von Drawdowns und gleichzeitiger Maximierung der Dividenden konnte aufgezeigt werden, wie dies zu einer Stabilisierung des Überschussprozesses eines Versicherers führt.
Schließlich betrachtete im letzten Block zunächst Annegret Weng (HFT Stuttgart) praktische Probleme beim diskriminierungsfreien Pricing von Versicherungsprodukten. Sie zeigte anhand einfacher Beispiele die sich aus verschiedenen Gründen für die gleichen Daten ergebenden unterschiedlichen Konsequenzen für diskriminierungsfreies Pricing. Innovative Rentenprodukte und speziell Tontinen waren das Grundthema des letzten Vortrags des Workshops, der von An Chen (Universität Ulm) gehalten wurde. Dabei präsentierte sie mehrere Anwendungsbeispiele in der 3. Säule und in der bAV, bei denen Tontinen durchaus gute Alternativen zu traditionellen Produkten darstellen können. Mit einer letzten intensiven Diskussion wurde dann der Workshop beendet. Sowohl direkt danach vor Ort als auch in den nachgelagerten Rückmeldungen bestand Übereinstimmung darin, dass sich der Austausch gelohnt habe, dass insbesondere das etwas aus der Not geborene 45-Minuten-Konzept mit den beiden 15-Minuten-Vorträgen und der zugehörigen Kaffee-Diskussions-Pause zu einer lebhaften und abwechslungsreichen Veranstaltung beigetragen habe und man das Ganze doch wiederholen solle. Sollte sich an dieser Einschätzung und diesem Wunsch nichts ändern, bestehen auch für 2025 gute Chancen, einen solchen Workshop auszurichten, wenn auch vielleicht nicht direkt wieder in Oberwolfach, aber doch an einem mathematisch ähnlich spektakulären Ort.