Stochastische Einzelschadenreservierung
Überblick
Seit der Einführung von Solvency II ist die Berechnung der Best Estimate Reserven vor und nach Rückversicherung aufsichtsrechtlich verankert[1]. Die Best Estimate-Bewertung stellt eine der wesentlichen Grundlagen für die Aufstellung der Solvabilitätsübersicht („Solvenzbilanz“) sowie für die Berechnung des versicherungstechnischen Risikos dar. Die Haftpflicht-Sparten stellen die Aktuare dabei schon vor Anwendung der Rückversicherung aufgrund ihrer langen Abwicklung vor eine besondere Herausforderung. Die in der Praxis weit verbreiteten aktuariellen Verfahren bedienen sich üblicherweise aggregierter Schadendaten (und ggf. Exposuremaßen) und berücksichtigen die lange Abwicklungsdauer über Extrapolationen des Nachlaufs der geschätzten Abwicklungsmuster über die beobachtete Abwicklung hinaus. Da einzelne Großschäden das Abwicklungsmuster verzerren können, ist es bei einem ausreichend großen Bestand mit entsprechend stabiler Datenbasis üblich, eine Trennung nach Basis- und (Personen-)Großschäden vorzunehmen. Bei großen Personenschäden werden für die aktuarielle Bewertung im deutschen Markt derzeit im Wesentlichen zwei deterministische Methoden verwendet:
Chain Ladder auf aggregierten Daten
Überleitungsfaktor (häufig =1) auf die HGB-Reserve, die aufgrund des unter HGB vorgeschriebenen Vorsichtsprinzips auf Einzelschadenebene in der Regel nicht einem Best Estimate entspricht
Auch wenn das Ergebnis vor Rückversicherung angemessen sein kann, so wickeln sich einige der Großschäden sehr gut und andere sehr schlecht ab. Eine sinnvolle Abbildung von nicht-proportionaler Rückversicherung (z.B. Schadenexzedenten) ist damit fast unmöglich. Sowohl gängige Verfahren auf Basis von aggregierten Netto-Schadendreiecken als auch HGB-Überleitungsrechnungen führen in der Regel zu sehr groben Schätzern. Bisher verwendete stochastische Methoden (z.B. Bootstrapping) basieren ebenfalls auf aggregierten Daten und eignen sich daher auch nicht zur Abbildung nicht-proportionaler Rückversicherung, da die Information über die Abwicklung einzelner Schäden fehlt.
Karl Murphy und Andrew McLennan haben daher im Jahr 2006[2] die Grundlage für eine stochastische Einzelschadenreservierung vorgestellt. Die Idee ist die zufällige Abwicklung jedes einzelnen Großschadens, indem jede zukünftige Zahlung zufällig aus einem Pool historisch beobachteter Zahlungen oder auch der Übergangsfaktoren zur nächsten Abwicklungsperiode gezogen wird. Durch Wiederholungen dieser Abwicklung entsteht eine Monte-Carlo-Simulation, aus der vielfältige Kennzahlen abgeleitet werden können, insbesondere der Best Estimate der Reserven in einer Brutto- und RV-Sicht.
In der Juni-Ausgabe 2022 des Aktuars haben Dirk Skowasch und Torsten Grabarz einen Artikel über die „Stochastische Projektion zukünftiger Großschadenzahlungen zur Ermittlung von Brutto- und Netto-Best-Estimates unter Solvency II“ veröffentlicht[3]. Dieser basierte im Wesentlichen auf der Methode von Murphy und McLennan, erweiterte und änderte diese aber an einigen Stellen für die Anforderungen aus Solvency II und für die Besonderheiten des deutschen Versicherungsmarktes.
Neben den methodischen Beschreibungen präsentierte der Artikel die Anwendungsergebnisse für die Kraftfahrzeug-Haftpflicht-Personenschäden eines mittelgroßen deutschen Regionalversicherers. Die Methode hatte sich dort als sehr hilfreiche Verbesserung im Hinblick auf die Prognose des Zahlungs-Cashflows und insbesondere des Rückversicherungsanteils erwiesen.
Um die Methodik für andere Bestände zu testen und um Detailfragen zur Methodik im Expertenkreis zu diskutieren, hat die AG Schadenreservierung die UAG Einzelschadenreservierung gegründet.
Dieser Bericht beschreibt zunächst die Methode und greift dabei an vielen Stellen auf den oben erwähnten Artikel zurück. Die Diskussionen der UAG über kritische methodische Details und die hergeleiteten Verbesserungen werden ausführlich beschrieben und sind in Kapitel 2 durch kursive Schrift gekennzeichnet.
Im letzten Teil stellt der Bericht die Erfahrungen mit der Umsetzung der Methode vor und schließt mit einer Zusammenfassung der Vor- und Nachteile.
Zusätzlich zur Ausarbeitung wurde die Implementierung der Methode in R als Paket öffentlich zur Verfügung gestellt. (Paket: https://github.com/dskowasch/sicr Doku: https://dskowasch.github.io/sicr/articles/sicr.html).
[1]vgl. Delegierte Verordnung (EU) 2015/35 der EU-Kommission, Art. 17 bis Art. 36
[2] Murphy, K. und McLennan, A. (2006). A method for projecting individual large claims. Casualty Actuarial Society Forum, Seiten 205–236.
[3] Skowasch, D. und Grabarz, T. (2022). Stochastische Projektionen zukünftiger Großschadenzahlungen zur Ermittlung von Brutto- und Netto-Best-Estimates unter Solvency II. Der Aktuar 2/2022, Seiten 80–88.
Verabschiedung
Dieser Ergebnisbericht ist durch den Ausschuss Schadenversicherung am 4. Februar 2025 verabschiedet worden.