Jeder Vierte wird berufsunfähig
Vor diesem Hintergrund hat die Deutsche Aktuarvereinigung e.V. (DAV) die Aussage an Hand der ihr vorliegenden Daten überprüft. Zwei Aspekte sind dabei zu beachten: Zum einen berücksichtigen die Daten nur privat gegen Berufsunfähigkeit abgesicherte Personen. Im Jahr 2017 gab es laut des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) knapp 17 Millionen Versicherungsverträge, die gegen eine Berufsunfähigkeit absichern – bei rund 44 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland. Damit ist etwa gut ein Drittel der Erwerbspersonen privat abgesichert, je nachdem wie viele Versicherte mehr als einen Versicherungsvertrag abgeschlossen haben. Die Daten des Kollektivs der privat abgesicherten Personen sind somit nicht unbedingt auf die Gesamtbevölkerung übertragbar, auch wenn frühere Erfahrungswerte unter anderem der gesetzlichen Rentenversicherung den nachfolgenden Ergebnissen sehr ähneln.
Zum anderen weicht der Begriff der Berufsunfähigkeit in der Privatwirtschaft deutlich von der Definition der Erwerbsminderung ab, wie sie heute in der gesetzlichen Rentenversicherung abgesichert ist. Bei einer privaten Absicherung gegen die Berufsunfähigkeit geht es immer darum, ob dem zuletzt ausgeübten Beruf noch nachgegangen werden kann. Ist dies nicht der Fall, so greift der Versicherungsschutz. Die Erwerbsminderung in der gesetzlichen Rentenversicherung schützt dagegen nur vor dem Risiko, alle existierenden Berufe nicht mehr ausüben zu können. Eine Erwerbsminderung liegt deshalb nicht notwendigerweise vor, wenn der zuletzt ausgeübten Tätigkeit nicht mehr nachgegangen werden kann. Die Wahrscheinlichkeit, berufsunfähig zu werden, ist daher höher als die Wahrscheinlichkeit, erwerbsgemindert zu werden.
Daten umfassend überprüft
Zur Reservierung von Berufsunfähigkeitsabsicherungen steht den Aktuaren das Tafelwerk „DAV 1997 I“ zur Verfügung. Dieses wurde von der DAV zuletzt 2012 ausführlich überprüft. Auf Grundlage der damals erhobenen Erfahrungsdaten, ohne Sicherheitszuschläge, wurde von der DAV kürzlich noch einmal überprüft, ob die Aussagen zur Berufsunfähigkeit weiterhin der Realität entsprechen.
Die Tabelle enthält die Wahrscheinlichkeit für privat abgesicherte Erwerbstätige, im Laufe des Berufslebens mindestens einmal berufsunfähig zu werden. Dabei werden unterschiedliche Eintrittsalter sowie Rentenbeginnalter betrachtet. Die Wahrscheinlichkeit liegt für die untersuchten Alter zwischen 15,8 und 28,5 Prozent. Das heißt, je nach Alter bei Eintritt in das Erwerbsleben und beim Übergang in die Rente wird jeder vierte, fünfte oder sechste privat gegen Berufsunfähigkeit abgesicherte Erwerbstätige im Laufe seines Erwerbslebens mindestens einmal berufsunfähig. So werden zum Beispiel von allen Frauen mit Erwerbsbeginn im Alter 20 bis zum Alter 62 knapp 20 Prozent oder jede Fünfte mindestens einmal berufsunfähig.
Die hier untersuchte Wahrscheinlichkeit unterscheidet sich von der, bei Rentenübergang berufsunfähig zu sein. Es ist beispielsweise möglich, dass eine berufsunfähige Person ihren zuletzt ausgeübten Beruf wieder aufnimmt und somit ins Erwerbsleben zurückkehrt. In diesem Fall lag nur vorübergehend eine Berufsunfähigkeit vor und zu Rentenbeginn zählt diese Person nicht mehr als berufsunfähig.
Gesicherte Informationen über das durchschnittliche Alter beim Eintritt in das Erwerbsleben liegen der DAV nicht vor. Mit Blick auf die unterschiedlichen Schulformen und die im Anschluss möglichen Ausbildungswege scheint die Wahl eines Eintrittsalters von 20 Jahren aber plausibel. Die Deutsche Rentenversicherung Bund veröffentlicht jährlich das durchschnittliche Zugangsalter zur Rente wegen Alters, das im Jahr 2016 bei 64 Jahren lag. Damit beträgt für privat gegen Berufsunfähigkeit abgesicherte Erwerbstätige die Wahrscheinlichkeit einer Berufsunfähigkeit im Laufe des Arbeitslebens im Mittel 25 Prozent. Dies bestätigt die Aussage „Jeder Vierte wird berufsunfähig“. Das Risiko, berufsunfähig zu werden, hängt neben dem Eintrittsalter in das Erwerbsleben und dem Alter bei Rentenübergang zweifellos auch vom ausgeübten Beruf ab. Für bestimmte Berufsgruppen können deshalb auch Aussagen wie „Jeder Dritte wird berufsunfähig“ oder „Jeder Fünfte wird berufsunfähig“ richtig sein. Hierzu besitzt die DAV aktuell aber keine Daten.
Veränderte Gründe für die Berufsunfähigkeit
Die Aussage „Jeder Vierte wird berufsunfähig“ beschreibt die Realität schon seit mindestens 20 Jahren treffend und dies trotz der starken Veränderungen in der Arbeitswelt. Der deutliche Rückgang von körperlich anstrengenden Tätigkeiten hat anscheinend keinen oder nur einen geringen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Berufslebens mindestens einmal berufsunfähig zu werden. Denn die Gründe für den Eintritt einer Berufsunfähigkeit verschieben sich: Waren früher vor allem der Bewegungsapparat und das Herz-Kreislauf-System die Ursachen für ein Ausscheiden aus dem Beruf, so spielt heute die Psyche die zentrale Rolle. Laut den Statistiken der Deutschen Rentenversicherung Bund ist diese Verschiebung auch beim Neuzugang zu Erwerbsminderungsrenten zu beobachten. Im Jahr 1996 war mit 27,5 Prozent noch „Skelett/Muskeln/Bindegewebe“ der Hauptzugangsgrund, dicht gefolgt von „Herz- und Kreislauferkrankungen“ mit 17,4 Prozent. Diese beiden Zugangsgründe machten im Jahr 2016 zusammen nur noch circa 20 Prozent der Neuzugänge aus, mit 42,8 Prozent war die „Psyche“ die am meisten gestellte Diagnose. Die Auswertungen des GDV zeigen ein ähnliches Bild bei Leistungsfällen von Berufsunfähigkeitsabsicherungen. Im Jahr 2016 waren seelische Erkrankungen mit etwa 33 Prozent die häufigste Ursache für eine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit.
Fazit: Das unterschätzte Risiko
Die Berufsunfähigkeit ist ein vielfach unterschätztes Risiko, das auch in Zeiten der Digitalisierung und Automatisierung der Arbeitsprozesse nicht geringer wird. Vielmehr verschieben sich mit den neuen Arbeitsbedingungen nur die Gründe für die Berufsunfähigkeit. Darauf müssen sich Versicherungsnehmer wie Versicherungen gleichermaßen einstellen.