Interview mit Petra Hielkema, Vorsitzende der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA)
Der 2020 begonnene Solvency-II-Review wurde Ende letzten Jahres abgeschlossen. Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Änderungen?
Die Einführung von Solvency II im Jahr 2016 war ein Meilenstein in der Regulierung von Versicherern, und das Regelwerk hat im Laufe der Jahre gezeigt, dass es einen gut funktionierenden Versicherungsmarkt in Europa schaffen kann, die Versicherten schützt, unverzichtbare Dienstleistungen erbringt und die finanzielle Stabilität bewahrt. Daher war unser Ansatz bei der Überprüfung das Regelwerk zu verfeinern, anstatt es im Kern zu überarbeiten. Zu den wichtigsten Erkenntnissen gehörten die Verankerung der Nachhaltigkeit im aufsichtsrechtlichen Rahmen, die Stärkung des Liquiditätsmanagements der Versicherer und der verbesserte Einsatz von makroprudenziellen Analysen.
Was sind Ihrer Meinung nach die potenziellen Auswirkungen der Solvency-II-Überprüfung auf die Risikomanagementpraktiken der Versicherer, die Kapitalanforderungen und die Produktinnovationsstrategien?
Die Überprüfung hat einige Neuerungen mit sich gebracht, aber der Grundgedanke war, dass wir eher eine Evolution als eine Revolution brauchen.
Ein Bereich der Veränderung ist die Nachhaltigkeit, wo wir wichtige Schritte unternommen haben, die die Versicherer verpflichten, Nachhaltigkeitsrisiken in ihren Risikomanagementprozessen gründlich zu berücksichtigen. Wir analysieren derzeit, wie sich glaubwürdige Übergangspläne mit quantifizierbaren Zielen umsetzen lassen, die konsequent verfolgt werden können. Außerdem untersuchen wir, ob Solvency II eine differenzierte aufsichtsrechtliche Behandlung von Vermögenswerten und Aktivitäten vorsehen sollte, die ökologische und soziale Ziele unterstützen, im Gegensatz zu denen, die ihnen schaden.
Die Überprüfung wird auch einige Änderungen an den Kapitalanforderungen für das Zins- und Aktienrisiko mit sich bringen. Auch bei der Bewertung von Versicherungsverbindlichkeiten wird es Änderungen geben, die sich auf die Größe der zur Deckung der Kapitalanforderungen verfügbaren Eigenmittel auswirken werden. Die wichtigsten Änderungen betreffen die Risikomarge der versicherungstechnischen Rückstellungen und den für die Bewertung verwendeten Diskontierungssatz. Die EIOPA hat empfohlen, dass die Auswirkungen der Änderungen insgesamt ausgewogen sein sollten, da wir der Meinung sind, dass das derzeitige Anforderungsniveau angemessen ist und der Versicherungsbranche geholfen hat, die jüngsten Marktturbulenzen zu überstehen.
Wir betonen weiterhin die Notwendigkeit einer ausreichend kapitalisierten Branche. Eine Kapitalerleichterung in einer Zeit der aktuellen Ungewissheit würde die Branche in ihrer Fähigkeit einschränken, auf Risiken zu reagieren, und den Schutz der Versicherten verringern. Zu Ihrem letzten Punkt: Wir erwarten nicht, dass die Überprüfung große Wellen bei der Gestaltung von Versicherungsprodukten auslösen wird.
Wie schafft Solvency II ein Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Versicherungsnehmenden und der Ermutigung der Versicherer, in langfristige Wachstumschancen zu investieren, insbesondere vor dem Hintergrund niedriger Zinssätze und Marktvolatilität?
Versicherung ohne Verbraucherschutz ist wie ein Haus ohne Fundament. Verbraucherschutz schafft Vertrauen, und Vertrauen ist für die Fähigkeit der Versicherer zu investieren und der Wirtschaft Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, unerlässlich. Wenn Policeninhaber ungerecht behandelt werden, schwindet ihr Vertrauen. Das Hauptziel von Solvency II besteht daher darin, ihre Interessen zu schützen und durch solide Vorschriften und eine wirksame Aufsicht einen stabilen Sektor zu schaffen. Wir müssen uns aber auch darüber im Klaren sein, dass die Aufsichtsregeln keine unangemessenen Hindernisse für Investitionsmöglichkeiten schaffen dürfen. Die Überarbeitung von Solvency II beinhaltet einige Maßnahmen zur Verbesserung des Verbraucherschutzes, sie enthält aber auch Maßnahmen zur Erleichterung langfristiger Investitionen, z. B. in Equity.
Wie stellt die EIOPA sicher, dass das Solvency-II-Rahmenwerk angesichts der sich entwickelnden Landschaft neuer Risiken wie Klimawandel und Cybersicherheit widerstandsfähig und anpassungsfähig gegenüber zukünftigen Herausforderungen bleibt?
Ein Grund für diese Überarbeitung war es, Aspekte des Rahmens, die nicht optimal waren, anzugehen. Ein ebenso wichtiges Element ist, dass der Rahmen in einer sich entwickelnden Welt zweckmäßig bleibt. Ich habe bereits einige unserer Maßnahmen zur nachhaltigen Finanzierung erwähnt, und es ist klar, dass wir sowohl physische Risiken als auch Übergangsrisiken erkennen und die Auswirkungen des Klimawandels durch Abschwächung, Anpassung und Sensibilisierung aktiv angehen müssen.
Ein weiteres neues Risiko, mit dem wir konfrontiert sind, ist die Digitalisierung, wobei die Cybersicherheit nur ein Aspekt davon ist. Unsere alltägliche Infrastruktur ist zunehmend von digitalen Technologien geprägt. Jede erhebliche Störung, die auf unsere digitale Infrastruktur abzielt, kann weitreichende und teure Folgen haben. Wann immer Risiken auftreten, kann und sollte Versicherung Schutz bieten. Konkret für die Cyberversicherung haben wir 2023 ein neues Berichtssystem eingeführt, um den Markt aus der Perspektive von Angebot und Nachfrage besser zu verstehen. Die ersten Berichte werden uns voraussichtlich in einigen Wochen erreichen und wir werden in der Lage sein, neue Erkenntnisse über das Underwriting von Cyber-Policen zu gewinnen. Auch ohne neue Daten kann man mit Sicherheit sagen, dass eine beträchtliche Cyber-Versicherungslücke besteht, die zum Teil auf ein Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage, aber auch auf den Ausschluss bestimmter Risiken von der Deckung zurückzuführen ist. Die Einführung des Digital Operational Resilience Act (DORA) Anfang 2025 wird die Abwehrbereitschaft des Finanzsektors gegen Cyber-Bedrohungen deutlich erhöhen. DORA wird Standards für das Risikomanagement festlegen, Kanäle für die Meldung von Vorfällen einrichten und die Aufsicht auf kritische Drittanbieter ausweiten. Damit wird der Finanzsektor der EU besser in der Lage sein, Cyberangriffen zu widerstehen und auf sie zu reagieren.
Welche Schritte werden unternommen, um die Transparenz und die Kommunikation zwischen den Aufsichtsbehörden, den Versicherern und anderen Beteiligten in Bezug auf die Anforderungen von Solvency II und die Verfahren zur Einhaltung der Vorschriften zu verbessern?
Während des gesamten Überprüfungsprozesses standen wir in engem Kontakt mit den Mitgesetzgebern, um Meinungen auszutauschen und den besten Weg zu finden. Bei der Erteilung unserer Ratschläge haben wir stets öffentliche Konsultationen durchgeführt, um Rückmeldungen von verschiedenen Interessengruppen einzuholen und so die Qualität unserer Vorschläge zu verbessern. Dieser transparente und kooperative Ansatz prägt unsere Arbeit und wird auch bei der Entwicklung der bevorstehenden technischen Standards und Leitlinien für die Überarbeitung von Solvency II beibehalten.
Wie schafft die EIOPA ein Gleichgewicht zwischen der Notwendigkeit einer einheitlichen Regulierung in allen EU-Mitgliedstaaten und der Anerkennung nationaler Besonderheiten und Marktdynamiken im Rahmen des Solvency-II-Überprüfungsprozesses?
Solvency II bietet unserer Ansicht nach eine gute Lösung, da es sich um ein prinzipienbasiertes Regelwerk handelt. Diese Prinzipien funktionieren gut für verschiedene Arten von Versicherungsmärkten und die Überprüfung wird diesen Ansatz beibehalten. Eine der deutschen Besonderheiten ist, dass Lebensversicherer ein großes Backbook mit hohen langfristigen Garantien haben. Bei der Einführung von Solvency II wurde dies berücksichtigt, indem einige der Änderungen zeitlich gestaffelt eingeführt wurden. Auch bei dieser Überprüfung wird anerkannt, dass die Auswirkungen der Änderungen unterschiedlich sein können und einige nationale Branchen möglicherweise mehr Zeit benötigen, um sie zu verdauen als andere.
Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU stellt sich auch die Frage der Balance zwischen Sicherheit und Level Playing Field erneut. Da britische Versicherer nicht mehr an die Solvency-II-Richtlinie gebunden sind, beginnen die Regulierungen zu divergieren. Wie kann die EIOPA verhindern, dass kontinentaleuropäische Versicherer einen Nachteil gegenüber ihren britischen Konkurrenten erleiden?
Beim Thema Wettbewerbsgleichheit ist es wichtig zu betonen, dass sie nicht nur zwischen Europa und anderen Regulierungsbereichen gilt, sondern auch innerhalb der EU selbst. Die Gewährleistung eines fairen Wettbewerbs innerhalb Europas bedeutet, dass sich Versicherer sowie Tochtergesellschaften und Zweigstellen von Versicherern aus Drittländern an die gleichen Regeln halten müssen. Was das Vereinigte Königreich betrifft, so ist es nur natürlich, dass sich unsere Vorschriften, obwohl einst ähnlich, im Laufe der Zeit unterschiedlich entwickeln. Diese Divergenz ist nicht ungewöhnlich. Angesichts der Bedeutung des Vereinigten Königreichs als wichtiger Versicherungsmarkt und seiner Nähe ist es jedoch unser Ziel, eine enge Zusammenarbeit mit den dortigen Behörden zu pflegen. Wir haben Absichtserklärungen unterzeichnet und regelmäßige Dialoge eingerichtet, um das gegenseitige Verständnis und die Zusammenarbeit zu fördern. Ein globaler fairer Wettbewerb ist ebenfalls wichtig. EIOPA und die Behörden des UK beteiligen sich aktiv an der Festlegung internationaler Standards. Gemeinsam setzen wir uns für die Entwicklung eines einheitlichen Regulierungsrahmens für Versicherer weltweit ein.
Was sind die voraussichtlichen Zeitpläne und Meilensteine für den Abschluss der Solvency-II-Überprüfung, und wie können deutsche Aktuarinnen und Aktuare aktiv dazu beitragen, die Zukunft der Versicherungsregulierung in Europa zu gestalten?
Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass die Änderungen an der Direktive in der zweiten Hälfte dieses Jahres in Kraft treten und zwei Jahre später anwendbar sein werden. Nach dem Inkrafttreten der Änderungen wird die Europäische Kommission Änderungen an der delegierten Verordnung zu Solvency II verabschieden. EIOPA wird die bestehenden technischen Standards und Leitlinien zu Solvency II überarbeiten und neue erstellen. Wir werden öffentliche Konsultationen zu diesen Standards und Leitlinien durchführen, und ich möchte insbesondere die Aktuare auffordern, sich an diesen Konsultationen zu beteiligen. Wir zählen auf Ihr Fachwissen und Ihre Erkenntnisse.
Das Interview führte Mariella Linkert.