Interview mit Monika Schnitzer, Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
Frau Prof. Schnitzer, Sie haben eine herausragende Karriere in der Wirtschaftsforschung und Politikberatung. Wie ist Ihre Sicht auf die aktuellen Herausforderungen der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland und wie hat Ihre Tätigkeit im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung diese beeinflusst?
Bei all den dramatischen Entwicklungen und Konflikten in verschiedenen Regionen dieser Welt will ich vorsichtig sein mit Superlativen, aber die Herausforderungen der gesetzlichen Rentenversicherung sind so gewaltig, dass das Thema ins Zentrum der Programme aller Parteien rücken müsste, die die Zukunft dieses Land ernsthaft gestalten wollen. Leider hat sich seit meiner Tätigkeit im Sachverständigenrat durch den Kontakt zu vielen politischen Entscheidungsträger:innen* mein Eindruck verfestigt, dass alle vor ernsthaften Reformen zurückscheuen, aus Sorge, die Wählergunst zu verlieren. Und in der Tat, die Bevölkerung reagiert sehr sensibel auf dieses Thema. Ich erhalte beim Thema Rente mit Abstand die meisten Zuschriften, teils besorgte, teils sehr grenzwertige.
Das gesetzliche Rentensystem in Deutschland steht aufgrund des demografischen Wandels unter erheblichem Druck. Worin sehen Sie die größten Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung des derzeitigen Rentensystems?
Das Grundproblem, vor dem wir aktuell schon stehen und das sich in den nächsten Jahren mit dem Renteneintritt der Babyboomer-Generation noch weiter verschärfen wird, ist, dass sich das Verhältnis von aktiv Beschäftigten zu Renter:innen stark verringert hat und weiter verringern wird, von aktuell 3 zu 1 auf bald 2 zu 1. Das stellt unser Umlagesystem vor enorme finanzielle Herausforderungen. Schon jetzt fließt jährlich ein Viertel des gesamten Bundeshaushalts in die Rentenkasse, Tendenz steigend. Die bereits hohen Beitragsätze werden weiter steigen müssen, erst recht, wenn jetzt, wie im Rentenpaket II geplant ist, durch Einziehen von Haltelinien eine Begrenzung des Rentenanstiegs ausgeschlossen wird. Das ist nicht generationengerecht, denn die Jüngeren müssen immer mehr zahlen, um die vielen Älteren zu finanzieren.
Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Reformen, die notwendig sind, um die Leistungsfähigkeit des deutschen Rentensystems zu erhalten? Für welche Maßnahmen setzen Sie sich konkret ein?
Der Sachverständigenrat hat im Jahresgutachten 2023/24 eine Reihe von Vorschlägen gemacht. Das Renteneintrittsalter sollte sich an der ferneren Lebenserwartung orientieren. Wenn wir länger leben, können wir dieses Plus an Lebenszeit nicht ausschließlich im Rentenbezug verbringen. Wir schlagen ein Verhältnis von 2:1 vor: Jedes weitere Jahr Lebenserwartung sollte zu zwei Dritteln auf eine längere Erwerbsphase und ein Drittel auf eine längere Rentenphase umgelegt werden. Auch dürfen die Renten nicht mehr so stark steigen wie bisher. Eine Möglichkeit wäre, dass sie nicht mehr an die Lohnentwicklung, sondern an die Inflation gekoppelt werden. Dabei bliebe die reale Kaufkraft der Rente erhalten. Schließlich sind die Möglichkeiten, abschlagsfrei in Rente zu gehen, zu großzügig ausgestaltet und nicht zielgenau genug. Sie werden vor allem von Menschen mit einem mittleren Einkommen genutzt, die überdurchschnittlich gesund sind. Und wenn Abschläge fällig werden, sind sie zu niedrig. Versicherungsmathematisch müssten die Abschläge bei vorzeitigem Renteneintritt ungefähr doppelt so hoch sein wie aktuell.
Das Äquivalenzprinzip ist in unterschiedlichen Ausgestaltungsformen ein zentrales Element aller Säulen der Alterssicherung. Es gibt Stimmen, die eine Aufweichung dieses Prinzips im gesetzlichen Rentensystem fordern. Wie stehen Sie zu dieser Diskussion?
Wenn man, wie wir vorschlagen, den Rentenanstieg begrenzt, besteht die Gefahr, dass die Armutsgefährdung im Alter zunimmt. Um dem entgegenzuwirken, haben wir im Gutachten den Vorschlag gemacht, eine progressive, nach Einkommen gestaffelte, Rentenberechnung einzuführen. Niedrige Einkommen würden dann relativ mehr Rentenpunkte pro verdientem Euro erhalten als höhere Einkommen. Dieser Vorschlag betont stärker das Solidarprinzip und würde auch zur nachhaltigen Finanzierung des Systems beitragen. Das wäre übrigens nicht der einzige Rentenbestandteil, der mit dem Äquivalenzprinzip bricht, also dem Prinzip, dass der Rentenanspruch eins zu eins mit den gezahlten Beiträgen wächst. Auch Witwenrenten und Mütterrenten verstoßen gegen dieses Prinzip, denn für sie wurden gar keine Beiträge gezahlt.
Wie sehen Sie die Rolle der betrieblichen Altersversorgung und privaten Altersvorsorge als Säulen der Altersvorsorge neben dem gesetzlichen Rentensystem in Deutschland?
Knapp 20 Millionen Personen haben in Deutschland Anspruch auf eine betriebliche Altersvorsorge, sie ist also eine sehr wichtige Säule im System und wird gern in den Diskussionen über die zu geringe gesetzliche Rente unterschlagen. Richtig ist, dass sie regional durchaus unterschiedlich verteilt ist. So haben Beschäftigte im Osten aufgrund der geringeren Tarifbindung und der kleinteiligeren Unternehmensstruktur seltener eine betriebliche Altersvorsorge. Da die gesetzliche Säule in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zunehmend unter Druck geraten wird, werden die anderen beiden Säulen wichtiger.
Bislang setzt die Politik in der zusätzlichen Altersvorsorge auf Freiwilligkeit und versucht, durch staatliche Anreize die Eigenvorsorge zu fördern. Zu viele Bürgerinnen und Bürger nutzen aus den unterschiedlichsten Gründen die vorhandenen Angebote nicht und laufen damit Gefahr, im Alter auf staatliche Fürsorge angewiesen zu sein. Wie stehen Sie vor diesem Hintergrund zu der Forderung nach einer zusätzlichen obligatorischen Altersvorsorge?
Im Jahresgutachten 23/24 haben wir uns für eine neue Form ergänzender privater Altersvorsorge mit Kapitaldeckung ausgesprochen, die so ausgestaltet wird, dass sie die Probleme der Riester-Rente überwindet. Zentrales Element könnte nach internationalem Vorbild ein öffentlich verwalteter aktienbasierter Fonds mit breiter Diversifizierung sein. Alle Mitglieder der Zielgruppe werden automatisch einbezogen, erhalten jedoch die Möglichkeit, auszutreten. Der Fonds agiert als Standardanbieter mit privater Konkurrenz und kann aufgrund der Größe mit geringen Kosten arbeiten. Die Weiterführung einer allgemeinen Förderzulage kann die höhere Belastung durch den zusätzlichen Beitrag vor allem bei niedrigen Einkommen dämpfen.
Wie kann das Rentensystem angesichts der steigenden Lebenserwartung und der alternden Bevölkerung ein Gleichgewicht zwischen der Notwendigkeit finanzieller Nachhaltigkeit und dem Ziel der Bereitstellung eines angemessenen Renteneinkommens herstellen?
Unsere Vorschläge zielen in der Kombination genau darauf ab. Es gibt leider nicht den einen großen Hebel, an dem gezogen werden kann, sondern es muss an vielen Stellschrauben gedreht werden, damit der komplizierte Koloss Rentensystem in die richtige Richtung bewegt und gut austariert wird.
Die Digitalisierung und Automatisierung verändern den Arbeitsmarkt im Hinblick auf notwendige Qualifikation und Quantität von Arbeitskräften. Diese Änderungen in den Rahmenbedingungen der Berufsausübung verstärken den Trend zu weniger stetigen Erwerbsbiografien. Welche Auswirkungen sehen Sie auf das Rentensystem und wie sollte die Politik darauf reagieren?
Die Transformationen beeinflussen den Arbeitsmarkt, allerdings gab es vergleichbare Phasen in der Vergangenheit auch schon. Die Nachfrage nach Jobs ändert sich und Tätigkeiten innerhalb der Jobs ebenfalls. Wichtig ist es deshalb, den Wechsel von Tätigkeiten innerhalb und außerhalb eines Unternehmens zu erleichtern. Da sind in erster Linie die Unternehmen gefragt, ihren Beschäftigten Wege der Weiterqualifizierung aufzuzeigen und sie dabei zu unterstützen. Angesichts des demografischen Wandels muss man keine Angst vor Massenarbeitslosigkeit haben, im Gegenteil. Im Vergleich zur Generation, die, gerade in Ostdeutschland, nach der Wiedervereinigung Massenarbeitslosigkeit erlebt hat, erlebt die heutige Generation seit 20 Jahren einen relativ stabilen Beschäftigungsboom, der weiter anhalten dürfte.
Klimawandel und ökologische Nachhaltigkeit sind heute wichtige Themen. Sind Sie der Meinung, dass das Rentensystem im Falle einer Kapitalanlage etwa beim „Generationenkapital“ Nachhaltigkeitskriterien in seine Anlagestrategien einbeziehen sollte? Wenn ja, wie?
Klimawandel und ökologische Nachhaltigkeit stehen im Zentrum der Strategien der meisten großen, im globalen Wettbewerb stehenden, Unternehmen und sind deswegen in gewisser Weise automatisch Teil der Anlagestrategie, wenn breit und diversifiziert angelegt wird. Ich sehe keinen Vorteil darin, zusätzliche Kriterien anzusetzen, zumal dabei die Gefahr besteht, dass dies zu Lasten der Rendite und der Risikodiversifizierung geht.
Welche Rolle sehen Sie für die Versicherungsmathematik und die Aktuarinnen und Aktuare bei der Bewältigung der Herausforderungen der Rentenreform und bei der Gestaltung der Zukunft des Rentensystems?
Versicherungsmathematik und Aktuar:innen spielen eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der Herausforderungen der Rentenreform und der Gestaltung der Zukunft des Rentensystems. Sie helfen, die langfristige finanzielle Stabilität zu sichern, indem sie demografische Trends analysieren, wie z. B. die steigende Lebenserwartung und das Verhältnis von Beitragszahlenden zu Rentner:innen. Zudem übernehmen sie Risikomanagement, indem sie zukünftige Risiken für das Rentensystem kalkulieren und Strategien zur Stabilisierung entwickeln. Schließlich gestalten sie nachhaltige Reformen, die eine faire und ausgewogene Verteilung der Rentenlast sicherstellen, z. B. durch die Anpassung von Beiträgen und Renteneintrittsaltern. Klingt nach genau dem Job, den es braucht, um das Rentensystem endlich substanziell zu reformieren.
*Auf Wunsch der Gesprächspartnerin wird in diesem Interview eine gendergerechte Sprache verwendet.