Interview mit Dr. Kai-Uwe Schanz
Dr. Schanz, es wurde in den letzten Jahren viel über das „E“ in ESG, also den ökologischen Aspekt der Nachhaltigkeit gesprochen. Das „S“ war nicht so sehr im Fokus. Wie genau definiert sich das „S“ in ESG, die soziale Nachhaltigkeit oder Social Sustainability?
Bei sozialer Nachhaltigkeit steht unmittelbar der Mensch im Mittelpunkt. Es geht um gesellschaftliche Strukturen, die auf Chancengleichheit und Gerechtigkeit beruhen und das körperliche, geistige und wirtschaftliche Wohlbefinden der Menschen fördern. Diese Ziele sind so zu verfolgen, dass gegenwärtige Bedürfnisse erfüllt werden, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu beeinträchtigen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Dieser Imperativ ist natürlich nicht neu. Er wurde bereits in den 1980er-Jahren im wegweisenden Brundtland Report der Vereinten Nationen formuliert. Und es stimmt: Das ,S‘ stand bislang eher nicht im Fokus. Dies liegt meiner Ansicht nach in erster Linie an Herausforderungen bei der Messbarkeit. Es ist leichter, den CO2- als den sozialen Fußabdruck eines Unternehmens zu messen.
Im November 2022 hat die Geneva Association den Report „The Role of Insurance in Promoting Social Sustainability“ veröffentlicht. Können Sie uns bitte kurz darstellen, wo Sie den wesentlichen Beitrag der Versicherungsindustrie sehen – auch im Vergleich zu Banken oder anderen Industrien?
Die Versicherungswirtschaft hilft, finanzielle Schocks besser zu verkraften und nach Eintritt eines großen Schadenereignisses schneller wieder auf die Beine zu kommen, anstatt zum Beispiel in Armut abzugleiten. So würde ich den Beitrag der Assekuranz zu individueller und gesellschaftlicher Resilienz und damit zu sozialer Nachhaltigkeit beschreiben. Und dieser Beitrag beruht – im Gegensatz zu anderen Industrien – auf dem Kerngeschäft des Risikotransfers. Zunehmend wichtiger wird aber auch ein anderer, häufig vernachlässigter Aspekt: Risikoprävention. Versicherer haben ein natürliches kommerzielles Interesse an Risikovermeidung. Zu diesem Zweck bieten sie spezifische Produkte und Dienstleistungen an. Nicht weniger wichtig sind die Preissignale, die Versicherer durch ihre Prämiengestaltung aussenden. Dadurch werden Anreize für Risikoprävention bei den Versicherten geschaffen. Dies hilft nicht nur den Versicherern, sondern nützt auch der Gesellschaft als Ganzes.
Zwischen „E“ und „S“ können Zielkonflikte bestehen: Etwa sollen Versicherer risikoadäquate Preise verlangen, um, wie Sie bereits sagten, der Gesellschaft die Kosten für wachsende Klimarisiken transparent zu machen und so Verhalten zu incentivieren, das die gesellschaftliche Resilienz gegen den Klimawandel erhöht. Auf der anderen Seite können dadurch sozial Schwache benachteiligt werden, die sich dann keinen Versicherungsschutz mehr leisten können. Wie kann die Industrie damit umgehen?
Nun, grundsätzlich gilt, dass ohne risikoadäquate Preissetzung Versicherer auf die Dauer nicht lebensfähig sind. Kurzfristig erleiden sie durch nicht auskömmliche Prämien technische Verluste auf dem bestehenden Bestand. Mittel- bis langfristig dürfte sich der Bestand strukturell dahingehend ändern, dass ‚gute‘ Risiken ausscheiden, da sie nicht gewillt sind, ‚schlechte‘ Risiken zu subventionieren. Im Laufe der Zeit müssten die verbleibenden Mitglieder im Pool der Versicherten mit immer höheren Prämien rechnen – ein Teufelskreis. Unter dem Strich würden Deckungslücken (Protection Gaps) weiter wachsen und die bereits erwähnten positiven gesamtgesellschaftlichen Externalitäten durch Preissignale gefährdet. Diese Gefahren sollte die Politik im Auge behalten, wenn über Eingriffe in die Preissetzungsfreiheit nachgedacht wird. Volkswirtschaftlich würde es sicher mehr Sinn machen, besonders exponierte, sozial schwache Gruppen gezielt staatlich zu subventionieren. So könnte eine maximale Inklusivität von Versicherungsschutz gewahrt werden – auch bei steigender Frequenz und Intensität wetterbedingter Schadenereignisse.
Umgekehrt, welche Vorteile können Versicherer daraus ziehen, sich sozial nachhaltig zu verhalten und ihr Geschäftsmodell auf sozial nachhaltige Aspekte umzustellen? Welchen positiven Einfluss sehen Sie auf das Geschäftsmodell für die verschiedenen Sparten?
Ich bin überzeugt, dass die Versicherungswirtschaft ein Geschäftsmodell betreibt, das inhärent soziale Nachhaltigkeit fördert. Versicherer stärken die sozio-ökonomische Resilienz, indem sie Risikoschutz zugänglich und erschwinglich machen. Gleichzeitig tragen sie zur Risikoprävention bei und stellen enorme Summen für langfristige Investitionen zur Verfügung. Im Vergleich zu anderen volkswirtschaftlichen Aktivitäten leisten die Versicherer durch ihr Kerngeschäft einen weit überdurchschnittlichen Beitrag zu sozialer Nachhaltigkeit. Zu Selbstzufriedenheit gibt es jedoch keinen Anlass. Das Narrativ der inhärenten sozialen Nachhaltigkeit hat nämlich einen entscheidenden Schwachpunkt: Das Auftreten bzw. Fortbestehen gigantischer Deckungslücken in gesellschaftlich zentralen Bereichen wie Altersvorsorge, Gesundheit, Sterblichkeit, Cyber und Naturgefahren. Hier besteht dringender Handlungsbedarf bei Versicherern und Regierungen, auch im Rahmen von Partnerschaften zwischen dem privaten und öffentlichen Sektor.
Was genau wäre zu tun?
Ich denke, Technologie ist der entscheidende Hebel, um Versicherungsschutz besser zugänglich zu machen sowie kostengünstiger und in attraktiverer Form bereitzustellen. Zudem erlauben es fortgeschrittene analytische Verfahren, der Einsatz künstlicher Intelligenz und die Verfügbarkeit beispielloser Datenmengen, bestimmte Versicherungsrisiken besser zu verstehen und die Grenzen der Versicherbarkeit zu erweitern. Das hilft auch der Inklusion von sozialen Gruppen, die bisher keinen oder nur unzureichenden Zugang zu Deckungen hatten, z. B. aufgrund von Vorerkrankungen. Die genannten Ansätze machen es möglich, Impact Underwriting zu betreiben, d. h. spezifische soziale Ziele zu verfolgen, ohne die Gesetze der Versicherungsmathematik aus den Augen zu verlieren.
Was können Aktuarinnen und Aktuare beitragen, um soziale Nachhaltigkeit in Versicherungsunternehmen voranzubringen?
Insbesondere in den Feldern Produktentwicklung, Underwriting und Kapitalanlagen können Aktuarinnen und Aktuare signifikant zu einer Geschäftsführung beitragen, die – auch über das Kerngeschäft hinaus – Nachhaltigkeit fördert, ohne die wirtschaftliche Solidität des Unternehmens zu vernachlässigen. Nur einige Beispiele: Im Produktebereich müssen Antworten auf neue Risiken, von Cyber bis hin zu autonomer Mobilität, gefunden werden. Außerdem gilt es, das Potenzial für Produkte besser auszuschöpfen, die Risikoprävention erleichtern. Im Underwriting stellt uns die Preissetzung für die Dynamik des Klimawandels vor große Herausforderungen. Auch gilt es, neu verfügbare Daten und Methoden zu nutzen, um vernachlässigten Risikogruppen verbesserten Schutz anbieten zu können. Und schließlich das Feld der Anlagepolitik: Ohne aktuariellen Sachverstand könnte die Integration von ESG-Kriterien rasch zum Blindflug werden.
Das Interview führte Mariella Linkert.