Gastbeitrag von Prof. Jochen Ruß: Die Unsicherheit der zukünftigen Entwicklung der Lebenserwartung
Nach Ansicht führender Forscher sind die Prozesse des menschlichen Alterns inzwischen verstanden und beeinflussbar. Lautet die Antwort auf die BBC-Frage also: „The Party hasn’t even started”?

The Party is over
Es gibt zahlreiche Argumente, die dafür sprechen, dass die Lebenserwartung künftig deutlich langsamer steigen (oder sogar sinken) wird. Zahlreiche Argumente wurden in einem Vortrag des Autors auf der Jahrestagung der DAV 2023 ausführlich erläutert (https://www.ifa-ulm.de/Lebenserwartung.pdf). Hier sei exemplarisch nur eines genannt: Typische Senioren leiden an mehreren Krankheiten gleichzeitig (siehe Abbildung im PDF). Der „normale medizinische Fortschritt“ erhöht die Heilungschancen einzelner Krankheiten. Wenn man bei einem 85-Jährigen allerdings diejenige Krankheit heilt, an der er gestorben wäre, hat er schon mehrere andere. Dies scheint eine unüberwindbare Hürde für eine signifikante Reduktion der Sterblichkeit von Senioren zu sein, ohne die eine signifikante Zunahme der Lebenserwartung aber faktisch unmöglich ist.
The Party hasn‘t even started
Das Ende der Party scheint also unausweichlich, solange das Altern per se nicht verlangsamt werden kann. Genau das ist aber in greifbare Nähe gerückt. Zahlreiche vielversprechende Ansätze wurden im genannten Vortrag vorgestellt. Daher auch hier nur ein Beispiel: In einer Studie mit Diabetikern wurde herausgefunden, dass Diabetiker, die das Medikament Metformin erhalten, nicht nur eine höhere Lebenserwartung aufweisen als Diabetiker, die mit anderen Medikamenten behandelt werden, sondern auch eine höhere Lebenserwartung als Menschen, die keinen Diabetes haben. Ob Metformin das Altern auch bei Nicht-Diabetikern verlangsamt, wird derzeit in einer Studie namens TAME (Targeting Ageing with Metformin) genauer erforscht.
Was machen die Medikamente, die das Altern verlangsamen sollen, im Körper?
Diese Frage wurde im genannten Vortrag nur am Rande behandelt und dem Autor im Nachgang des Vortrags sehr oft gestellt. Daher an dieser Stelle der Versuch, diesbezüglich zumindest ein wenig an der Oberfläche zu kratzen, auch wenn es sich primär um eine biologisch/medizinische Frage handelt, die andere kompetenter beantworten können.
Im menschlichen Körper gibt es „Kommunikationskanäle“, über die gewisse Moleküle und Proteine als Signale an Zellen „gesendet“ werden können. Wird beispielsweise der mTOR-Signalweg gehemmt, so wird dem Körper eine Nahrungsknappheit „vorgetäuscht“ und ein Prozess namens Autophagie gestartet, der dazu führt, dass defekte Proteine und fehlerhafte Zellelemente „aufgefressen“ werden. Dies erhöht z. B. bei Mäusen die Lebenserwartung signifikant. Hier setzt Intervallfasten an, aber auch Medikamente wie Rapamycin, das mTOR herunterreguliert.
Der AMPK-Signalweg ist für die Energieproduktion des Körpers relevant. Mit zunehmendem Alter sinkt die entsprechende Aktivität ab, was als eine Ursache altersbedingter Krankheiten gilt. Das oben genannte Medikament Metformin erhöht die AMPK-Aktivität.
Sirtuine sind Proteine, die den Metabolismus und die Genexpression kontrollieren. Sie brauchen als „Treibstoff“ einen Stoff Namens NAD+, dessen Niveau im Körper mit zunehmendem Alter abnimmt. Sogenannte NAD+-Booster zielen daher darauf ab, Stoffe zuzuführen, die dem Körper helfen, NAD+ zu bilden. Senolytics schließlich sind Medikamente, die sogenannte seneszierende Zellen beseitigen. Das sind Zellen, die sich nicht mehr teilen können, aber auch nicht absterben und deren Ansammlung als wichtige Ursache altersbedingter Krankheiten gilt.
Was bedeutet all das für Aktuare?
Aktuare beschäftigen sich mit dem Modellieren, Messen und Managen von Risiken. Die Modellierung basiert oft auf einer Analyse historischer Daten. Die oben (extrem verkürzt) dargestellten Argumente legen nahe, dass in Bezug auf die Sterblichkeit eine Unsicherheit in beide Richtungen besteht, die aus historischen Daten nicht abgelesen werden kann. Daher ist ein tieferes, interdisziplinäres Verständnis der Risiken erforderlich, um entscheiden zu können, ob in die Modellierung (neben Erkenntnissen aus historischen Daten) auch Expertenmeinungen eingehen sollten.
Ein sinnvoller erster Schritt besteht darin, aktuelle Entwicklungen laufend und systematisch zu beobachten, mit einer Einschätzung zu versehen (wann könnte es relevant werden, ist ein Erfolg eher wahrscheinlich oder eher unwahrscheinlich und wie hoch könnten ggf. die Auswirkungen sein) und in einer allgemeinverständlichen Form aufzubereiten. Die Gründung der Arbeitsgruppe „Medizinischer Fortschritt“ der DAV ist vor diesem Hintergrund zu begrüßen.
Danach sollte das gewonnene Wissen so „übersetzt“ werden, dass es als Basis zur Modellierung von Langlebigkeitsrisiken dienen kann. Hier bietet es sich an, ausgewählte deterministische Szenarien abzuleiten, beispielsweise ein optimistisches Szenario (Medikament A steht in 10 und Medikament B in 15 Jahren der allgemeinen Bevölkerung zur Verfügung). Auf Basis der Erkenntnisse über die potenzielle Wirkung der Medikamente könnte man einen Verlauf der Lebenserwartung in diesem optimistischen Szenario ableiten (analog ggf. für ein sehr optimistisches, für ein pessimistisches und ein sehr pessimistisches Szenario). Diese Szenarien könnten dann direkt für deterministische Szenarioanalysen genutzt werden.
Besonders spannend wäre eine Verknüpfung dieser Szenarien mit Wahrscheinlichkeiten. Man bräuchte allerdings keine Eintrittswahrscheinlichkeit für z. B. das optimistische Szenario, sondern eine Wahrscheinlichkeit (x%), dass „irgendetwas“ passiert, was mindestens so gut ist, wie das optimistische Szenario (analog für die anderen Szenarien). Dies könnte man dann nutzen, um stochastische Sterblichkeitsmodelle so zu kalibrieren, dass gerade x% der von diesem Modell generierten Szenarien mindestens so optimistisch sind, wie das optimistische Szenario. Die Streuung der Szenarien des Modells wäre dann konsistent zu den gewonnenen Erkenntnissen über die Unsicherheit der Sterblichkeit.
Fazit
Die Unsicherheit der zukünftigen Entwicklung der menschlichen Lebenserwartung ist derzeit in beide Richtungen extrem hoch. Ein besseres Verständnis dieser Unsicherheit erfordert einen interdisziplinären Ansatz. Eine Übersetzung der so gewonnenen Erkenntnisse in Szenarien und Wahrscheinlichkeiten erlaubt eine Kalibrierung von Sterblichkeitsmodellen konsistent zu Experteneinschätzungen. Kann man die hierfür benötigten Szenarien und Wahrscheinlichkeiten exakt schätzen? Natürlich nicht. Wäre ein solches Modell trotzdem „besser“ als ein Modell, das ausschließlich an historische Daten kalibriert wird? Vermutlich immer dann, wenn sich für die Zukunft Effekte abzeichnen, die man sinnvoll einschätzen kann und die in historischen Daten nicht vorhanden sind.