Gastbeitrag von Prof. Dr. Dr. Alexander Brink: S by Design – vom Mathematiker zur Architektin sozialer Nachhaltigkeit
So wird gewährleistet, dass Aktuare und Aktuarinnen über die notwendigen Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen, um komplexe finanzielle und versicherungstechnische Risiken zu bewerten und zu managen. Sie gelten – folgt man der Internetseite aktuar.de – als universelle Problemlöser und Innovationstreiber. Und, so liest man weiter: Innerhalb der Versicherungsunternehmen genießen sie aufgrund ihrer einzigartigen Expertise hohes Ansehen, außerhalb des Finanzwesens führen sie bis heute oft noch ein Schattendasein. Letzteres wird sich ändern.
Ein Beruf vor neuen Herausforderungen zwischen Mathematik und Ethik
In Zukunft – so möchte ich im Folgenden argumentieren – wird die Tätigkeit von Aktuaren und Aktuarinnen viel stärker in der öffentlichen Wahrnehmung stehen. Warum? Weil sie perspektivisch nicht nur mathematisch-statistische Kompetenzen benötigen, sondern in diesen turbulenten Zeiten auch ein Gespür für ethische Aspekte und moralische Abwägungsprozesse erforderlich ist, insbesondere wenn es um die faire Bewertung von Risiken und die Festlegung von Prämien geht. Sie tragen damit eine viel weitreichendere Verantwortung als man auf den ersten Blick meinen mag, da ihre Entscheidungen nicht nur finanzielle, sondern auch soziale Auswirkungen auf Einzelpersonen und Gesellschaften haben. Und das wird stärker in den Fokus rücken. Vielleicht nicht auf der großen Bühne und im Rampenlicht des Marketings und des Vertriebs. Eher hinter den Kulissen, im Maschinenraum der Produktentwicklung.
Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, Aktuare und Aktuarinnen werden in Zukunft so etwas wie die Architekt*innen* sozialer Nachhaltigkeit sein, weil sie einen wesentlichen Beitrag zur nachhaltigen Transformation der Versicherungswirtschaft leisten. Sie wirken weit über die Mathematik hinaus, berühren auch die großen Fragen der Ethik. Und damit befinden sich Aktuare und Aktuarinnen in guter Tradition, waren doch viele renommierte Philosophen von der Antike bis zur Neuzeit zugleich gute Mathematiker: Pythagoras, René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz, Blaise Pascal und im weiteren Sinne auch Immanuel Kant, dessen Geburtstag sich im letzten Jahr zum 300. Male gejährt hat. Vereint hat sie die Suche nach Gerechtigkeit.
Aktuar*innen kümmern sich um intra- und intergenerationale Gerechtigkeit
Intragenerationale Gerechtigkeit bezieht sich auf die faire Verteilung von Ressourcen und Chancen innerhalb einer Generation, also zwischen den derzeit lebenden Menschen. Intergenerationale Gerechtigkeit hingegen bezieht sich auf die faire Verteilung von Ressourcen und Chancen zwischen verschiedenen Generationen, also zwischen den heute lebenden Menschen und zukünftigen Generationen. Beides haben Aktuar*innen im Blick. Gerechtigkeitsfragen hängen tatsächlich eng mit der Alters- und Gesundheitsvorsorge zusammen.
Finanzielle Sicherheit im Alter: Ein funktionierendes Altersvorsorgesystem stellt sicher, dass die heutige arbeitende Generation im Alter ausreichend versorgt ist, ohne übermäßig auf die nächste Generation angewiesen zu sein. Wenn das Altersvorsorgesystem nachhaltig gestaltet ist, verhindert es, dass zukünftige Generationen durch hohe Beiträge oder Steuern übermäßig belastet werden müssen, um die Renten der aktuellen älteren Generation zu finanzieren. Das ist gerecht.
Zugang zur Gesundheitsversorgung: Eine gerechte Krankenversicherung stellt sicher, dass Menschen unabhängig von ihrem Alter Zugang zu notwendiger medizinischer Versorgung haben, was die Gesundheit und Lebensqualität sowohl der jungen als auch der älteren Generation unterstützt. Ein ausgewogenes Krankenversicherungssystem verteilt die Kosten für Gesundheitsversorgung fair über alle Generationen, sodass keine Generation unverhältnismäßig hohe Beiträge zahlen muss, um die medizinischen Kosten einer anderen Generation zu decken. Auch das ist gerecht.
Durch die Berechnung von Prämien und die Entwicklung von Garantiekonzepten sorgen Aktuare und Aktuarinnen für einen ausreichenden Lebensstandard im Alter und eine Absicherung im Krankheitsfall. Es geht um langfristige Stabilität in der Krankenversicherung und die dauerhafte Erfüllbarkeit in der Lebensversicherung, das risikogerechte Pricing in der Schadenunfallversicherung. Ein weiterer sozialer Aspekt, der den Kern des Nachhaltigkeitsdiskurses betrifft, ist Inklusion – übersetzt in die Sprache der Versicherungswirtschaft: die Versicherbarkeit. Die Erhöhung der Versicherbarkeit wird durch das Ausschließen extremer Risiken (oder z. B. durch entsprechende Risikozuschläge bzw. Ausschlüsse bei Vorerkrankungen in der Krankenversicherung), die präzise Berechnung des technischen Preises und das Management der Volatilität erreicht. Durch das Management und die Reduzierung von Spitzenrisiken kann ein Versicherer sicherstellen, dass mehr Risiken tragbar und versicherbar bleiben, was die allgemeine Versicherbarkeit eines Portfolios maximiert. Inklusion heißt gleichberechtigter Zugang zum Versicherungsschutz für alle, unabhängig von individuellen Unterschieden oder Beeinträchtigungen. Letztlich geht es um ethische Abwägungsprozesse im Spannungsfeld der Bepreisung eines erhöhten, vielleicht unverschuldeten Risikos des Einzelnen und der Bezahlbarkeit durch das Kollektiv.
Unsere aktuelle PKV-Studie 2024 zeigt: Aktuar*innen treiben soziale Nachhaltigkeit voran
Unsere aktuelle PKV-Studie zeigt, dass sich Entscheidungskriterien für PKV-Tarife grundlegend gewandelt haben. Während frühere Generationen noch von einem stabilen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Umfeld ausgingen, ist die Welt heute komplexer und volatiler geworden. Damit steigen auch die Herausforderungen für Aktuar*innen (demografischer Wandel und Bezahlbarkeit im Alter, Inflation, Pandemien). Unsere aktuelle Studie bietet eine innovative Perspektive auf die private Krankenversicherung (PKV), indem sie erstmals Nachhaltigkeit mit langfristigen Kundenbedarfen verknüpft. In diesem Zusammenhang haben Interviews mit Makler*innen gezeigt, dass dies für Kunden aktuell das wichtigste Entscheidungskriterium ist. In unserem Bewertungssystem fallen daher 35 Prozent der Bewertung auf den Aspekt „Langfristiger Erhalt und Bezahlbarkeit des Versicherungsschutzes“. Dabei wurden die folgenden vier Faktoren untersucht:
- Risikotragfähigkeit des Anbieters
- Tarif- und Beitragsstabilität
- Stabilität bei Änderungen des Umfelds
- Stabilität bei Änderungen der Lebensumstände
Der Nachhaltigkeitsbezug zum Kriterium „Langfristiger Erhalt und Bezahlbarkeit des Versicherungsschutzes“ ist aus dem Prinzip der doppelten Wesentlichkeit abgeleitet, das für die CSRD-Berichterstattung gilt. Es geht dabei um die finanzielle Bedeutung von Nachhaltigkeitsthemen. Hier zeigen sich in den 12 Toptarifen, die wir uns angeschaut haben, große Unterschiede: Es wurden in dem Kriterium zwischen 26 und 55 Punkte von 100 möglichen Punkten erreicht. Scheinbar sind die Methoden, Ansprüche und Instrumente der Aktuar*innen unterschiedlich. Schauen wir uns die vier Bewertungskriterien mal im Einzelnen an, um die ethische Bedeutung jenseits der mathematischen Berechenbarkeit zu erläutern:
Risikotragfähigkeit des Anbieters: Versicherungen haben die moralische Verpflichtung, sicherzustellen, dass sie ihre Kunden langfristig schützen können. Aus diesem Fürsorgeprinzip lässt sich folgern, dass finanzielle Mittel so verwaltet werden, dass sie auch in Krisenzeiten oder bei unerwartet hohen Schadensfällen die versprochenen Leistungen erbringen können. Die ethische Verantwortung liegt also darin, die Solvenz und damit den Schutz der Kunden zu gewährleisten, um nicht plötzlich ihre Verpflichtungen nicht mehr erfüllen zu können.
Tarif- und Beitragsstabilität: Stabilität in Tarifen und Beiträgen ist entscheidend, um Kunden vor unerwarteten und möglicherweise unerschwinglichen Kostensteigerungen zu schützen. Ethik spielt hier ebenfalls eine Rolle, da Versicherer einem Berufsethos folgen, Prämien fair und transparent zu gestalten und willkürliche oder übermäßige Preiserhöhungen zu vermeiden, die den Versicherungsschutz für Kunden unerschwinglich machen könnten. Kund*innen machen sich nämlich ein Stück weit vulnerabel, wenn sie sich auf einen Partner einlassen, der dann im Schadenfall nicht zahlen kann oder will. Hier spielt also die Verlässlichkeit eine zentrale Rolle.
Stabilität bei Änderungen des Umfelds: Gesellschaftliche, wirtschaftliche und klimatische Veränderungen können Einfluss auf die Versicherungsbranche haben. Ein ethischer Versicherer sollte in der Lage sein, auf solche Veränderungen zu reagieren, ohne den Schutz seiner Kunden zu gefährden. Das schließt ein, dass der Versicherer vorausschauend plant und Risikomanagement betreibt, um auch in veränderten Umfeldern den Versicherungsschutz aufrechterhalten zu können. Die Resilienz von Tarifen, also die Fähigkeit, Stabilität und Flexibilität klug zu synchronisieren, wird zukünftig immer wichtiger. Dabei kann im Übrigen die Digitalisierung kräftig unterstützen.
Stabilität bei Änderungen der Lebensumstände: Menschen durchleben im Laufe ihres Lebens verschiedene Phasen und Umstände, die ihren Versicherungsbedarf, aber auch ihre finanziellen Möglichkeiten verändern können. Es ist moralisch geboten, dass Versicherer flexibel auf diese Veränderungen reagieren und ihren Kunden weiterhin angemessenen Schutz bieten, ohne sie finanziell zu überfordern oder sie im Stich zu lassen, wenn sie am meisten auf den Schutz angewiesen sind. Resilienz bezieht sich also nicht nur auf die äußeren, sondern auch auf die inneren Lebensumstände der Kund*innen.
Aktuar*innen als Gestalter der Nachhaltigkeit
Letztlich gehört auch eine transparente und verständliche Kommunikation dazu. Greenwashing muss unter allen Umständen vermieden werden. Dazu muss der Kunde und die Kundin verstehen, was versicherbar ist und was nicht. Auch das gehört zur sozialen Verantwortung des Unternehmens – und definiert einen sauberen und fairen Beratungsprozess.
Dieses erweiterte Selbstverständnis, das Aktuar*innen als Architekt*innen sozialer Nachhaltigkeit neu positioniert, erfordert also nicht nur mathematisches Können, sondern auch eine tiefgreifende Professionsethik, die Gerechtigkeit, Fürsorge und Verlässlichkeit in den Mittelpunkt tagtäglicher Arbeit stellt. Das macht den Job nicht einfacher, erhöht aber die Attraktivität des Berufsstands – gerade für junge Fach- und Führungskräfte – und stärkt damit die öffentliche Wahrnehmung. Damit treten Aktuar*innen aus dem Schattendasein heraus – und werden zu unverzichtbaren Gestalter*innen einer nachhaltigen Zukunft.
*Auf Wunsch des Gastautors wird in diesem Artikel eine gendergerechte Sprache verwendet.