Versicherer stehen für Schäden der Versicherten nach dem Ereignis- bzw. dem Verursachungsprinzip ein. Es wird somit jeder Schaden reguliert, der während einer versicherten Periode eingetreten ist, auch wenn er erst nach dem Ende der Periode dem Versicherer gemeldet wird. Normalerweise vergehen zumeist nur wenige Tage oder Wochen zwischen dem Schadenereignis und der Meldung an den Versicherer, in Extremfällen können es aber auch Jahre sein, wenn sich der Schaden erst sehr spät manifestiert. Ein gutes Beispiel dafür ist die Architektenhaftpflicht, bei der Schäden durch fehlerhafte Gebäudekonstruktionen versichert sind, die sich oft erst nach vielen Jahren zeigen.
In welcher Höhe müssen Reserven gestellt werden?
Die Versicherer sind gesetzlich verpflichtet, zu jedem Bilanzstichtag finanzielle Vorkehrungen zu treffen, um alle Schäden aus der Versicherungsperiode endgültig regulieren zu können. Dabei müssen Rückstellungen sowohl für bereits bekannte, aber noch nicht vollständig abgewickelte Schäden, als auch für noch nicht gemeldete Schäden gebildet werden. Letztgenannte werden als Spätschäden bezeichnet. Während für die bekannten Schäden Einzelschadenrückstellungen anhand der vorliegenden Informationen gebildet werden, ist über die Spätschäden naturgemäß nichts bekannt. Diese Rückstellungen müssen daher geschätzt werden. Sie werden auch als IBNR-Reserve (Incurred But Not Reported) bezeichnet.
Nun kommt es in der Realität vor, dass sich einzelne bereits bekannte Schäden aufgrund von noch fehlenden Informationen als nicht „korrekt“ reserviert erweisen. Dies wird erst im Laufe der zukünftigen Abwicklung sichtbar. Daher muss der erwartete Reservebedarf für die bekannten Schäden ebenfalls geschätzt werden. Diese Schätzung unterscheidet sich in der Regel von der Summe der bilanziellen Einzelschadenrückstellungen. Dies führt zu der folgenden zweigeteilten Definition der IBNR-Reserve:
- Rückstellung für noch unbekannte Schäden (Spätschäden), auch als IBNyR (Incurred But Not yet Reported) oder „echte IBNR“ bezeichnet Beispiel: Schäden am Jahresende, die dem Versicherer erst im neuen Jahr gemeldet werden
- Rückstellung für noch nicht ausreichend reservierte, aber bekannte Schäden, auch als IBNeR (Incurred But Not enough Reported/ Reserved) bezeichnet Beispiel: vorher nicht absehbare Verschlechterung des Gesundheitszustands bei einem bereits bekannten Personenschaden.
Die HGB-Spätschadenrückstellung wäre somit Definition 1) zuzuordnen und wird daher auch manchmal als IBNR-Reserve bezeichnet.
Wie wird die IBNR-Reserve berechnet?
Der Aktuar versucht nun mittels aktuarieller Verfahren, je Schadenjahr den Endabwicklungsstand der gesamten Schadenzahlungen zu schätzen. Aus diesem Endabwicklungsstand und den bisher geleisteten Zahlungen lässt sich als Differenz eine Schätzung der gesamten noch benötigten Schadenreserven (Best Estimate) ableiten. Dies umfasst dann den Reservebedarf für bekannte Schäden und für Spätschäden. Im Vergleich mit der Bilanzreserve wird die Unterscheidung in 1) und 2) dabei meist nicht betrachtet, ist mit manchen Verfahren aber möglich.
Dem Aktuar stehen viele Verfahren mit sehr unterschiedlichen Ansätzen und Annahmen an die Schadendaten zur Verfügung, sodass die Wahl des richtigen Verfahrens zur Schätzung hierbei die schwierigste Aufgabe darstellt. Neben der Wahl des richtigen Verfahrens muss der Aktuar auch die Eingangsdaten zum Verfahren sorgfältig prüfen und gegebenenfalls bereinigen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn in den Daten der Vergangenheit Schäden enthalten sind, die in der Zukunft so nicht mehr vorkommen, oder wenn sich das Abwicklungsverfahren der Schadenabteilungen geändert hat.
Die Definition finden Sie hier zum Download auch als
PDF-Datei.